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Grenzboten_1846_Tagebuch_96.txt
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Grenzboten_1846_Tagebuch_96.txt
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T a g e b u et;. i Aus Paris. Das lustige Altengland und das artige Altfrankreich. — Die Franzosen der Zukunft. — I^v i>«»,ilk von Michelet__Frankreich als Wcltpapst und Frankreich als Hiov. — Anekdote. — Staats- und litterarische Papiere. — Lamennais und Uhlich. — Die Gazette de France und Rousseau; das Journal des Dc- vats und Voltaire. — Die Quatrs Kv^nßiles von Lamennais und das revolutionäre Christenthum. Ja, die Zeiten ändern sich und Frankreich schneidet täglich ernstere Gesichter, aber die Elegien über den Verfall der holt« l^r-me« <>« ^<al«, die wir nun schon seit Jahren anhören müssen, sind doch gar zu jämmerlich. Wem die heutigen Franzosen nicht charmant genug sind, mag ins alte Frankreich zurückgehen, zu den herzlosen Intriganten und Maitrcssenknechtm des -melen ivzii»«, die freilich tausendmal „artiger" und „liebenswürdiger" waren als alle ehrlichen Leute von jetzt zusammen. Ich meinerseits glaube, die Franzosen müssen noch viel uncharmanter werden, bevor sie zu was Rechtem kommen. Einst beklagte man gerade so den Verfall des zur-i','7 Ma Arzt-ma', des lustigen Altengland, aber die Engländer wurden dabei groß und stark. Ueberall vergolden die Altweiberseelen die „gute" alte Zeit. Was die Franzosen betrifft, so müßte Hopfen und Malz an ihnen verloren sein, wenn ihre grandiosen Lehr- und Wanderjahre seit 17^9 nicht endlich eine nachhaltige tiefere Umstimmung in Sitten und Grundsätzen hervorbrächten. Diese innere Metamorphose ist die bedeutsamste Frucht ihrer zwei Revolutionen und die eigentliche Garantie für die demokratischen Institutionen auf dem Papiere. 1^, neun, dieser Inbegriff von Altfrankreich, dieses Ideal und Borbild der frühern Gesellschaft, welches noch der sinnvolle P. L. Courier nicht genug geißeln konnte, diese traditionelle Hof- und Convenienz - Weltanschauung ist auch dem heutigen Frankreich noch nicht völlig ausgetrieben. Langsam wird solch ein Erbübel ausgeschwitzt. G^wiß werden die Feanzosen der Zukunft etwas weniger charmant sein und dafür beständiger, etwas weniger eitel und dafür stolzer, männlicher, wahrer 69* 528 gegen sich und Andere. Fürchten Sie nichts. Bis zur germanischen Grobheit werden sie's bei aller Anstrengung doch nicht bringen; so viel natürliche Anmuth ist ihnen schon angeboren, daß sie nicht leicht aufhören können, ein vorzugsweise „liebenswürdiges" Volk zu sein. Nicht ganz so liebenswürdig ist „I.- peupl»-"; so heißt nämlich das neueste Werk von Herrn Michelet- Wäre Michelet ein heißköpsi- gcr Spring'nsfeld, ein junger bonapartistischer Souslieutenant, so könnte man sich die abgeschmackten Fanfaronaden in seiner letzten Schrift erklaren. Aber Herr Michelet ist ein gesetzter Mann, ein Philister, ein Professor, der sich nicht wenig auf seine krause Gelehrsamkeit und seine orakulöse Gesichter schneidende Weisheit einbildet. Der ultranationale Veitstanz, die krähende Arroganz, die hochnäsige und näselnde Verachtung gegen das Stückchen Europa, welches zufallig nicht zu Frankreich gehört, stehen dem Historiker Michelet doppelt possierlich, und die hysterische Empfindsamkeit, mit der er abwechselnd von sich, von Frankreich und von dem armen, verkannten Volke redet, wird zuletzt widerlich. Es ist rührend anzusehen, wie der Professor die „arme 5>>'nie»!" liebkost und streichelt, wie er sie, gleich einer geliebten Puppe, in seinen Armen tulit, wie er dem Dulder Frankreich mit Tröstungen und Aufmunterungen zuspricht, die es gar nicht nöthig hat und am wenigsten von ihm erwartet. Eine besondere Marotte Michclets besteht darin, daß er sich steif und fest einbildet, das Volk sei von den Romanschreibern und Genrcmalern verleumdet, und er müsse nun den guten Ruf desselben wieder herstellen. In diesem edeln Bemühen bringt er allerhand hübsche und wahre, obwohl nichts weniger als neue Bemerkungen vor. Wir würden uns gern schmeicheln, daß die Anerkennung des Guten, was ursprünglich im plmpl» vorhanden ist, eben auf die Menschheit überhaupt, und daher so gut auf das deutsche, englische oder italienische Volk anzuwenden sei, wie auf das französische. Aber Gott bewahre! Solch ein Kosmopolitismus wäre ja Verrath an Frankreich. Nach Herrn Michelet kann dies Alles nur für das Volk in>r ^ists«, pnvi? > nur für die Franzosen gelten. In der That ist die Carricatur des Nationalgesühles noch von Niemanden weiter getrieben worden, als von unserm Professor. Die Franzosen sind ihm nicht blos ein auserwähltes Volk, sondern ein heiliges Dogma, ein göttliches Princip, der incarnirte Messias der Welt. Frankreich ist von jeher unfehlbar gewesen; es ist der Erbe Roms. Seit Jules Cesar (!) und Eharlemagne hat man in Frankreich das politische, religiöse, poetische und philosophische „Papstthum" (p-ip-mu;) zu suchen. Wer's nicht glauben will, dem beweist Michelet mit leicht hingeworfenen Phrasen, daß kein anderes Volk einer harmonischen Cultur fähig, ja daß Deutschlands und Englands Geschichte eitel Bruchstück sei, welches seine Ergänzung von Frankreich erwarte. Ergötzlich ist das bombastische Bild am Schlüsse, worin Ä29 er die psuvi-v I'ritnev als Hiob auf den Trümmern ihres irdischen Glückes sitzen läßt. Deutschland und England sind natürlich die pharisäischen Freunde, die mit heuchlerischen Mitleid kommen und fragen: Wo sind denn deine Schiffe, deine Maschinen oder Kunstwerke? Darauf sagt Michelet: Ich will statt ihrer antworten, laßt die arme France in Frieden. Seht, sie ist zum Bettler geworden, denn sie hat ihr Hab und Gut für die Menschheit geopfert! Sie ist blaß, denn sie hat all ihr Blut für Euch verspritzt, und als sie nichts mehr hatte, gab sie sogar ihre „Seele" hin, „et esse, <j«- <i>wi vo»5 viveü!" — !— Amen! Es wäre sehr Schade, wenn sich die deutsche Buchhändlerindustrie in ihrer Blindheit auf das Büchlein würfe und es übersetzen ließe; denn es ist ganz geeignet, einen zum Franzosenfresser zu machen, namentlich wenn man nicht wu'ß, welch ein Anachronismus Michelet mit seinem >« >»>»s>I>; im heutigen Frankreich ist, das gerade anfangt, toleranter und gerechter gegen das Ausland zu werden, als jemals. Michelet besitzt eine starke Dosis Coquetterie. Vor ungefähr einem xJahre sah ihn Schreiber dieser Zeilen zum ersten Male von Angesicht. Damals war gerade seine Brochüre gegen die Jesuiten erschienen. Der edle Professor spielte d.in Tiefsinnigen, den Philosophen, über alles Journallob hoch Erhabenen. Ich kümmere mich nicht um das was die Zeitungen über mich schreiben; ich lese sie gir nicht, bemerkte er. — So eben, sagte ich darauf, habe ich in der Revue de . . . über Ihre Schrift einen langen Artikel gesehen... — ^,-t-iI ilvj-l i>!un? (Ist er schon erschienen?) fiel Michelet mir ins Wort. — Wie voriges Jahr die Jesuiten, so wollte er diesmal die Nationalität ausbeuten. Allein die Speculation war falsch, Herr Michelet hat so dick aufgetragen, daß selbst Srockfranzoscn stutzig wurden; die crasse Buhlerei um einen Fetzen Popularität war> zu offenbar. Abgesehen von dem obligaten Beifall in zwei, drei Cliquenblättem ist lo püuplu ziemlich spurlos vorübergegangen. Ich hätte das Buch gar nicht erwähnt, aber da einige deutsche Zeitungscorrcspondenten es mit so unverdienter Wichtigkeit behandelt haben, so glaubt man am Ende jenseits des Rheins, der gewaltige Professor marschire bereits an der Spitze von ein paar hunderttausend Weltbefceiern auf Kehl und Freiburg los, und ohne ein Halbdutzend Nicolaus Beckers werde man ihn nicht bändigen können. Aber es hat keine Noth damit. Im Grunde der Seele halten die Meisten, die ihn kennen, den Herrn Michelet für einen melancholischen Farceur. Ueberhaupt, seit Staatspapiere und Actien die allgemeine Leidenschaft geworden sind, hat die übrige Papierwelt, Literatur und Journalistik, viel von ihrer unmittelbaren, rasch zündenden Macht verloren. Vielleicht hat auch das sein Gutes. Wahrend die literarische Industrie keuchend der Minute nachrennt, wird die bessere Literatur 530 immer mehr gezwungen, die Spekulation auf den Tag aufzugeben und mehr auf die Zukunft zu rechnen. Ein wichtiges Buch, obgleich es weniger Lärm macht, als die Mvstercs und der ewige Jude, ist lus si»-»,,«- IZv-uigil«« von dem greisen, tiefsinnigen Bretagner Lamennais, dem Prediger in der Wüste, der sich bemüht, das moderne Babylon in eine socialistisch religiöse Bewegung hineinzureißen; im Gegensatz zu dem rein politischen Streite zwischen Universität und Clerus. Lamennais gehört unter die Classe jener seltenen Männer, die gerade mit dem Alter immer kühner und entschiedener werden, während sonst Himmelsstürmer in der Jugend mit den Jahren sich zur Zahmheit bekehren und in der Nähe des Todtenbettes als morsche Betbruder zusammenbrechen. Welch einen Weg hat Lamennais zurückgelegt von seinem „Versuch über die Indifferenz" bis zu den „Vier Evangelien!" Ich setze voraus, daß man in Deutschland sich mit diesem Werke genauer bekannt machen wird, schon weil es interessant ist, den französischen Forscher mit den deutschen Reformatoren zu vergleichen. Bekanntlich hat Lamennais vom Deutsch- oder Christkatholicismus — eine Zuschrift wurde deshalb aus Berlin an ihn gerichtet — nichts wissen wollen. Die katholische Kritik in Paris sucht ihn jetzt auf eine Linie mit Uhlich zu stellen. Charakteristisch ist eine Besprechung der „Vier Evangelien" in der Gazette de France. Die deutschen Kirchenzeitungen würden mit einem deutschen Lamennais nicht so säuberlich und respectvoll verfahren. Der Feuilletonist der Gazette de France hat nämlich gar kein Anathema für den abtrünnigen Glaubenshelden, nur die Klage, daß derselbe „nicht mehr in der Wahrheit sei," wie einst. Das Motto der Kritik und die Hauptargumente gegen die „Vier Evangelien" sind Stellen aus Lamennais' frühern Schriften. Noch merkwürdiger aber ist, daß der orthodoxe Feuilletonist sich nicht scheut, an den Verfasser des „Contrat Social" zu appelliren. Freilich hütet er sich wohl, anzuführen, was der Bürger von Genf über den Einfluß des Christenthums aus das politische Schicksal der Nationen gesagt hat; er nimmt nur, was in seine Taktik paßt, eine Stelle aus dem vierten Buch des „Emile," die mit Begeisterung von dem stylistischen Charakter und der Moral des Evangeliums, von der Erhabenheit Christi über So- krates spricht und daraus auf den göttlichen Ursprung des neuen Testamentes schließt. Daß ein solcher Schluß aus der Trefflichkeit der evangelischen Sittenlehre auf ihren historischen Ursprung noch immer himmelweit entfernt ist vom unbedingten orthodoxen Glauben, das ficht den frommen Feuilletonisten in diesem Augenblicke nicht an, und er ruft: „Welch erhabene Sprache, welch ein Ton der Wahrheit!" Rousseau's Styl, heißt es, habe eine Weihe der Kraft, wie die Bibel selbst. „Nie hat die Vernunft (<» i.iisan) beredtere und überzeugendere Worte ertönen lassen!" Denken Sie nur, der fromme Streiter 5ZI der Gazette de France ruft die verschrieene >l>i«»n zu Hülfe. Es ist weit gekommen. Rousseau wird am Ende noch kanonisirt, wenn auch nur in Beziehung auf die eine Stelle im vierten Buche des Emile. Solche Sprünge dürfen indeß im heutigen Frankreich nicht überraschen. Sie erinnern sich, wie das Journal des Dcbats vor einiger Zeit pathetisch ausrief: Wir sind die Kinder Voltaire's! Aber ich will doch eine der dornigen Stellen in den „Bier Evangelien" anführen, auf welche die Gazette de France besonderes Gewicht legt. „Christus," sagt Lamennais, „hat nicht bog- matisirt." Nicht auf eine bestimmte, für ewig stabile theologisch- philosophische Doctrin hat er die neue Gesellschaft gegründet, sondern auf die unwandelbare Regel des Rechts und der Pflicht, auf das gemeinsame Gesetz der Völker, deren Band sie (nämlich die neue soeiliK?) bilden sollte. Außerhalb dieses Gesetzes, welches sich von einem Zeitalter zum andern, nicht in Bezug auf sein unwandelbares Princip, sondern in dessen Anwendung fortentwickeln sollte, außerhalb dieses Gesetzes, das für die Menschheit in der That der Weg und das Leben ist, laßt Christus vollkommene Freiheit für die Spekulation, für die ewige Arbeit des Gedankens, aus der die Wissenschaft geboren wird, welche, fortwährend neue Erwerbungen machend, sich auch fortwährend reformirt. Er hat keine Schranke dem menschlichen Geiste gesetzt, der von Gott bestimmt ist, die Wahrheit bis zu ihren unendlichen Quellen zurück zu verfolgen. Und da man, um fortzuschreiten, mehr als Einen Weg versuchen muß, so will er nicht, daß die unvermeidliche Meinungsverschiedenheit Diejenigen trenne, welche die Liebe vereinen soll. Der Glaube, den er verlangt, ist nicht ein Glaube an doctrinäre Lösungen, welche das ewige Problem von der Natur und ihrem Schöpfer in sich schließt, sondern der Glaube an seine Vorschriften und, an Den der uns hilft sie zu befolgen. Ist aber dies das Christenthum, wie man es gewöhnlich auffaßt, lehrt und übt?" Nicht wahr, das ist für einen gebildeten Deutschen nichts Neues. Dergleichen haben wir bei uns nicht nur von humanistischen Schriftstellern ^ I» Zschocke, sondern selbst von rationalistischen Kanzeln tausendmal hören können. Viele werden das mehr als klar und einfach, sie werden es platt und seicht nennen. Die fromme Gazette de France nennt es v-ixiiv! Unsere Skeptiker sucht man damit zu schlagen, daß man sie Nachbeter französischer Philosophen des vorigen Jahrhunderts nennt: Lamennais dagegen wirft man in der Gazette de France vor, er sei in das „vague deutsche Wesen" verfallen und mache sich zum Echo von Uhlich! Was bei uns nicht neu ist, und eben, weil es so gemeinverständlich und auf der Hand liegend scheint, nicht beachtet, ja sogar verachtet wird, hat eine viel größere Bedeutung, in Frankreich ausgesprochen, wo Theorien, Systeme und Dogmen nicht um ihrer selbst willen einen Werth haben, sondern wo man gleich Ernst macht 532 und an die Anwendung aufs Leben denkt. Und Lamennais macht Ernst, Lamennais dringt aus die politische und sociale Verwirklichung des Evangeliums. Diese Tendenz ist es, welche wieder die ganze Energie und den prophetischen Schwung seiner Beredsamkeit im grandiosesten Licht erscheinen läßt. „Wenn du von neuem auf Erden erschienest, o Jesus!" ruft er, „mit welchem Schmerze würdest du von neuem deine Schüler fragen: Versteht ihr mich denn noch immer nicht? Aber was die Schüler nicht verstehen, das Volk beginnt es zu begreifen. Du wirst nicht umsonst gesprochen haben, o Jesus, dein Wort ist das Samenkorn, aus welchem der geheimnißvolle Baum hervorwachsen wird, den die Menschheit erwartet, um in seinem Schatten auszuruhen." — Auf mehrern Blättern des Evangeliums heißt es von den Worten Ehristi, daß die Jünger sie nicht begreifen könnten, und Jesus selbst ist verwundert und betrübt darüber, paß ihr Geist für seine Lehren so wenig empfänglich ist. Diese Lehren waren zu erhaben, zu vollkommen in ihrer göttlichen Einfachheit, zu sehr im Widerspruch mit den gegebenen Ideen und herkömmlichen Vorurtheilen, um gleich anfangs in ihrem tiefen Sinn erfaßt und ohne lange, mühsame Vorbereitung, die moralische Richtschnur der Individuen, so wie die Grundlage aller menschlichen Institutionen und Gesetze zu werden. Dies ist das größte Hinderniß, welchem das Christenthum begegnete; ein Hinderniß, welches I8Jahr Hunderte noch nicht besiegten, ja dessen Ueberwindung durch die Lange der Zeit nur desto schwerer geworden ist. Denn wenn einerseits die Worte Christi noch immer nicht besser, ja in mancher Hinsicht noch weniger verstanden werden, als von seinen ersten Jüngern, so hat andererseits die Lange der Zeit, durch den Zauber den sie auf die Menschen ausübt, den Irrthum gewissermaßen geheiligt und ihm eine furchtbare Gewalt verliehen." Andere Blatter, als die Gazette de France, namentlich socialistische, haben mit Begeisterung die Loosungsworte Lamennais' aufgefangen und sprechen sehr bündig und populär, natürlich auch schneidender, als der Meister. „Lamennais", sagt ein socialistisches Journal, „spricht wohl auch zu den Schriftgelehrten, aber eingedenk der Bergpredigt, wendet er sich noch öfter an die Menge, an das Volk." — „Die Kirche", heißt es sehr kurz in demselben Blatte, „die Kirche hat das Christenthum nie begriffen. Daher jenes christliche Ideal, das sich der Einsamkeit zukehrt. Daher jener unselige Dualismus zwischen dem Reiche der Erde und dem Reiche des Himmels, ein Dualismus, den Christus- nicht (?) gekannt hat---- Die Kirche hat sich auf sich selbst beschränkt und ihr Antlitz verhüllt, wie die antiken Priesterinnen, die Welt oder die Erde Cäsar überlassend, d. h. den alten Machten, den socialenJdeen des Heidenthums, oder, um mitChristus 533 selbst zu reden, dem Reich der Finsterniß." Wenn aus Frankreich in einigen Jahrzehenden eine neue Revolution hervorgehen sollte, so wird sie radicaler sein, als die erste; das ist gewiß. Im Namen des Evangeliums lassen sich noch ganz andere Umwälzungen unternehmen, als in dem der Göttin Vernunft. Es kommt nur auf den Commen- tar an. Der sogenannte atheistische Eommunismus, von dem die Gespensterseher in Deutschland fabeln, ist es nicht, der eine Macht werden könnte, aber im evangelischen Radikalismus, im revolutionären Christenthum, wenn ich so sagen darf, schlummert ein furchtbarer Riese. Un'd die Bibel kann man heutzutage nicht verbieten. Doch das mögen Sie immerhin für müssige Träume halten. In literarischer Hinsicht wird man das meiste Gewicht auf den stylistischen Werth von Lamennais' Uebersetzung legen. Denn die Ueber-, fttzung der 4 Evangelisten bildet den Fond des Werkes; daß sie glänzend ausgefallen ist, können Sie sich denken. Lamennais war vielleicht der einzige Mann in Frankreich, der einer solchen Arbeit gewachsen war. Franzosen, welchen Luther's Bibel unzugänglich ist und welche der Sprödigkeit, des glatten Idioms von Racine sich bewußt sind, sagen in ihrem Enthusiasmus: Lamennais hat von der Stirne jenes Christus, den die Nationen auf ihren Knieen anbeten, den Staub der Jahrhunderte hinweggewischt!!! Der Commentar von Lamennais befindet sich unter dem Text auf jeder Seite; da sind die Noten oft sehr kurz; epigrammatische Erinnerungen an historische Ereignisse. Jede Abtheilung des Textes hat einen Anhang von längern Reflexionen, oder von Schotten, worin der Autor mit den „Schriftgelehrten" spricht und gleichsam den Talmud des Neuen Testamentes, die katholische Kirchengelehrsamkeit bekämpft. II. Ans Brüssel. Die polnischen Flüchtlinge in Brüssel. — Sarmatische Charakterschwächen und Borzüge. — Die deutchen Zeitungen. — Die Ministevrrisis--Nothomb und Ban de Weyer. — Nochgedrungene Politik — Belgien und die Schweiz. — Ein polnisch-belgischer Offizier.' — Sie können sich denken, daß die polnischen Unruhen auch hier das Tagesgespräch bilden; Peel's Aollreform, die dreitägige Sikh- schlacht und der Tunnel von Cumptich mit Herrn de Ritter sind dadurch fast in den Hintergrund geschoben worden. Leider ist das Interesse am Schicksal der Polen diesmal nicht, wie 1830, von enthusiastischer Hoffnung begleitet; das Schauspiel eines Volkes, das in der Verzweiflung immer mit dem Kopfe gegen die eiserne Wand rennt, ist ein sehr trauriges. Die Krakauer Flammen werden bald «Lrenzboten l»»0. I. 7t> 5,54 gelöscht sein; wie wird es nachher auf der Brandstätte aussehen! Und das Peinlichste ist, daß man um der Polen selbst willen wünschen muß, die Sache wäre schon vorüber, damit nicht zu viel Blur unnützer Weise vergossen werde. Die verwitterten Sarmatengesichter, die man dann und wann im Winkel eines Brüsseler Kaffeehausis erblickt, sind eine Mahnung an das Loos, welches wieder Hunderten jener sanguinischen Helden von Kcakau bevorsteht, und eine tragische Illustration zu den tausenderlei widersprechenden Zeitungsnachrichten. Scheu und geduckt gehen die hiesigen Polen umher, die Niedergeschlagenheit in ihren Mienen scheint ein Zeichen, daß die Emigration, die bei den jährlichen Denkreden, am 29. November, es eben nicht an muthigen Hoffnungsphrasen fehlen läßt, sich diesmal keine Illusionen macht, vielmehr die unüberlegte Schilderhebung als ein nuevo-ixl «-v »t ansieht. Vielleicht sind sie nur deshalb weniger sanguinisch, als sonst, weil sie der polnischen Bevölkerung und ihren improvisieren Führern nicht genug Erfahrung zutrauen, weil sie selbst ganz andere, etwas phantastische Pläne haben und noch immer hoffen, daß eine aus- wärtige Macht bei irgend einem nächsten Fciedensbruch (?) die Veteranen der Emigration an die Spitze der Bewegung stellen werde. Ob diese Hoffnung nicht eitel, ist freilich sehr die Frage, aber jedenfalls kann man die Krakauer Revolution wie einen aus Versehen los- gegangencn Schuß oder wie das Platzen einer Kanone betrachten, deren Splitter unter den unvorsichtigen Artilleristen selbst am meisten Verheerung anrichten werden. Wie man hört, haben sich etwa ein H.Ubdutzend der Tollkühnsten unter den Emigranten in Frankreich und Belgien, bei den ersten Nachrichten von der polnischen Gährung, losgerissen und bis in's Posensche durchgeschmuggelt, um, wie vorauszusehen war, der Festung in die Arme zu laufen. Man weiß nicht, wen man mehr beklagen soll: diese blinden Opfer ihrer Verwegenheit oder ihre zahlreichen Kameraden, die ein trauriges Leben im Auslande geduldig weiter friste». Geduld ist sonst keine polnische Tugend, aber die meisten jener Flüchtlinge leiden trotz der kleinen Unterstützung, welche ihnen die belgische Regierung zukommen läßt, an Nahrungssorgen, und die gemeine Noth des Lebens, Jahre lang erduldet, lähmt endlich auch die chevalereske Springkraft des sarmatischen Naturells, besonders bei Leuten, die von Hause aus an ein flottes Offizier- und Junkerleben und am wenigsten an mühsamen Erwerb gewöhnt sind. Das Elend der Verbannung wird ihnen jetzt ein doppeltes, wo sie, zur Zuschaucrrolle verurtheilt, von den Qualen der Ungewißheit und dem Bewußtsein der Ohnmacht gefoltert, weder zu hoffen wagen, noch zu restgniren sich entschließen können. Wenn man die deutschen Zeitungen liest, sollte man glauben, hier und in Paris müsse man über die ganze polnische Tragödie su s»it sein und gleichsam hinter den Coulissen stehen, weil hier die ,Z5 polnischen Flüchtlinge sind, die allerdings sämmtlich zur sogenannten Propaganda gehören mögen. Indessen ist man in Berlin, Leipzig und Wien durch die Nähe des Schauplatzes wahrscheinlich besser unterrichtet. Die belqischen und französischen Blatter schöpfen, wie gewöhnlich, ihre Berichte erst aus deutschen Journalen und von diesen selbst kommen nur wenige nach Belgien. Man muß im Esiaminct oder im Kaffeehause die zitternde Hast beobachten, mit der gewöhnlich zwei, drei polnische Gaste über die Kölnische Zeitung herfallen, die sie oft mühsam buchstabiren — denn die meisten verstehen nur halb das Deutsche — einander vorlesen und übersetzen. Die Zeitungslectüre, Andern ein harmloser Zeitvertreib beim Kaffee und der duftenden Cigarre, ihnen ist sie eine fieberheiße Beschäftigung. Wie viel schlaflose Nächte, wie viel ängstliche Träume sind in diesen blassen, durchfurchten Gesichtern verzeichnet. Noch melancholischer ist es anzusehen, wenn sie manchmal, mit tiefen Verbeugungen, zu einem oder dem andern Zeitungsleser treten und fragen, ob man nichts aus Polen wisse, ob man nicht gehört habe, wie es ihren Landsleuten geht; denn die briefliche Verbindung mit dem Osten scheint ihnen sehr erschwert oder ganz verkümmert zu sein. Es ist erfreulich, daß die deutsche Presse allmälig die verleumderischen und monströsen Gerüchte über das Benehmen der Polen zu widerrufen beginnt, welche sie anfangs nur zu leichtgläubig aufzunehmen und nur zu böswillig zu verbreiten sich beeilte. Bald sollte es im Plane gewesen sein, in Posen eine Art sicilische Vesper gegen die Deutschen zu veranstalten, bald fand man bei einem verhafteten Polen in Berlin zwölf Pfund Arsenik, vermuthlich um die Spree zu vergiften, und was dergleichen Unsinn mehr ist. Noch jetzt, nachdem die Haltung der Krakauer Rebellen gegen die Preußen jene Verleumdungen Lügen gestraft hat, gefallen sich manche Blätter darin, alles was polnisch ist, ins Blaue hinein zu denunciren. Man mag den Polen Leichtsinn und Tollkühnheit vorwerfen; ein seltenes, ritterliches Ehrgefühl hat man ihnen noch niemals abstreiten können. Manche Zeitungen glauben sehr loyal zu sein, wenn sie einen unbedingten Abscheu vor dem sarmatischen Wesen heucheln und den Deutschen überhaupt blinden Polenhaß andichten. Man soll es aber nicht läug- nen, vielmehr jederzeit laut aussprechen, daß Polen beim deutschen Volke die lebendigsten Sympathien besitzt und daß man die Hoffnung nicht ganz aufgeben kann, die deutschen Großmächte würden einst an eine Wiederherstellung Polens denken, sowohl im Interesse der deutsch n Zukunft, wie um eine alte Schuld zu sühnen. Im Vergleiche zu den tragischen Begebenheiten die jetzt die drei Großmächte in Athem halten, kommen uns die hiesigen Zänkereien und Ministerkrisen ziemlich kindisch und abgeschmackt vor. Belgien hatte durch fünf Jahre einen Minister an der Spitze seiner Verwal- 70 ^ 536 tung, um den es die größten Staaten zu beneiden Ursache hatten. Nach Robert Peel ist vielleicht Nothomb der größte Arbeiter, der »>n- ermüdlichste Geschäftsmann den ein europäischer Staat aufzuweisen hat. Nothomb gehört seinen Principien, wie seinem Glauben nach der liberalen Partei an, er ist der eigentliche Verfasser der belgischen Constitution, der liberalsten Verfassung in ganz Europa. Aber Nothomb ist zugleich ein praktischer Staatsmann, der nicht, die starre Theorie auf der Fahne, mit dem Kopfe gegen die Wand rennt, sondern klug zu steuern versteht, die persönlichen Eitelkeiten und die eingewurzelten Vorurtheile der Parteien klug zu umschiffen suchte und auf diese Weise innerhalb fünf Jahren eine treffliche, belebte und fortschreitende Administration unterhielt. Nothomb gehörte als Minister zu keiner Partei und daher hatte er endlich alle Parteien gegen sich; in jeder Kammersitzung fragte man ihn, zu welcher Fahne er schwöre, und da er sich keiner in die Arme werfen wollte, so endete er endlich damit, daß er sich zurück zog. Jetzt kam Herr Van de Weyer an die Spitze. Dasselbe Examen, dasselbe Manöver fand Statt. So lange Van de Wever in die Fußta fer Nothombs trat und sich nicht entschieden erklärte, wurde er bekriegt, verhöhnt, gestoßen, obschon Jedermann wußte, daß er einer der ehrenwerthesten Charaktere ist. Aber sanguinischer und weniger ausdauernd als sein Vorgänger, warf er sich endlich, müde der heftigen Angriffe, der äußersten Linke in die Arme und von diesem Tage an hatte sein Reich ein Ende. Die Linke hatte einen Sieg in der Person des Ministers errungen, aber sie hatte einen viel wichtigern Verlust erlitten, nehmlich den der Praxis. Statt einen der Ihrigen im Ministerium zu haben, der die Uebergriffe der Katholiken in Schach hielt, hat sie durch den Rücktritt Van de Weyers die Gewalt ganz in den Handen der Gegner gelassen und das Ministerium das jetzt in Aussicht steht, wird allem Anscheine nach ein ultrakatholisches sein. Bis zu den nächsten Kammerwahlen, d, h. noch anderthalb Jahre, wird die Gewalt in den Händen der Katholiken bleiben und während dieser Zeit werden viele Jesuiteninstitute reich dotirr werden, werden vielen unabhängigen Schulen ihre Substdien von der Negierung entzogen werden,, und wenn dann auch die neuen Wahlen den Liberalen eine entschiedene Majorität in den Kammern sichern, so wird indessen so viel Terrain verloren gegangen sein, daß der Kampf von neuem wird beginnen müssen, und zwar um Dinge, die man im jetzigen Augenblicke besitzt. Der Kampf gegen die Katholiken, der entschiedene gewaltsame Kampf wird in Belgien immer von der höchsten Gefahr sein. Denn wenn die Liberalen auch die Intelligenzen und die meisten großen Städte für sich haben, so besitzen dagegen die Katholiken die Massen, das Landvolk, den Fanatismus in ihrer Gewalt, und wehe der Unabhängigkeit des jungen Staates, wenn diese beiden Gewalten erst thatsächlich ein- 537 ander gegenüber stehen und von dem Wortkampf in den Kammern auf die Arena der Straßenkampfe hinaus treten. Der belgische Clerus hat es in zwei Revolutionen bewiesen, daß er den blutigen Straßenkampf nicht scheut. Das haben Nothomb und seine Freunde wohl verstanden, und darum haben sie das Biegen dem Brechen vorgezogen, und wir glauben, dies ist die unter den hiesigen Verhältnissen einzig gebotene Politik, wenn Belgien nicht allmählig die Schicksale der Schweiz wiederspiegeln soll. Um wieder auf die Polen zurück zu kommen, so werden Sie aus den Zeitungen ersehen haben, daß ein belgischer Offizier, der in der polnischen Sache compromittirt ist, in Preußen verhaftet wurde. Es ist dies der Oberlieutnant Z., ein Pole, der nach den Ereignissen der Jahre >83v und 3! in der belgischen Armee Dienste genommen hat und einen tadellosen Ruf besitz. Vor einigen Monaten verlangte er einen Paß, der ihm nicht verweigert werden konnte. Nun er ge- fänglich eingezogen wurde, sind von Seiten der hiesigen Regierung Schritte geschehen, daß er an Belgien und nicht an Rußland ausgeliefert werde, wo sein Schicksal ein gräßliches wäre; man zweifelt auch nicht daran, daß der belgische Gesandte in Berlin billige Ohren finden werde. III. Aus W ieu. Erziehungswesen. — Die französischen Gouvernanten. — Heimat und Fremde. — Die Hofmeister. — Gevatter Schneider und Handschuhmacher. — Ein Stoßseufzer. — Erlauben Sie mir heute auf einen Gegenstand zurückzukommen, über den ich Ihnen ebensowohl schon vor langen Jahren hätte schreiben können und der aller traurigen Wahrscheinlichkeit nach auch noch einige Decennien hindurch zeitgemäß bleiben wird. Ich meine das leidige Privatunterrichtswesen, wie es sich durch mannichfaltige Umstände im Laufe der Zeiten bei uns ausgebildet hat. Sie brachten vor einiger Zeit einen Artikel über Oesterreichs Schulen, der wohl einen allgemeinen Begriff vom österreichischen Staats-Schulenthume giebt, aber in seiner Kürze nicht die einzelnen Mängel desselben schildern, noch aus die Folgen und Einwirkungen eingehen konnte, die es für das Privatleben hat. Nicht Jedermann hat in Oesterreich Zutrauen zu den öffentlichen, vom Staate eingesetzten, besoldeten und beaufsichtigten Schulen. Und so hat sich das System des Hofmeisterund Gouvernantenthums in einer Weise ausgebildet, wie man es sonst vielleicht in der ganzen civilisirten und uncivilisirten Welt nicht kennt. Jeder Hausvater von nur einigem Vermögen, der aus seinen Söhnen sogenannte gebildete Menschen machen will, sucht für sie el- 5Z8 nen Hofmeister; jede Mutter, die einst ohne Beschämung ihre Tochter in die Welt einführen will, sorgt, daß sie für dieselbe schon in ihrem zartesten Alter eine Französin finde, welcher sie sie mit Leib und Seele übergiebt. Welche Uebelstände daraus für die weibliche Jugend sowohl, als für die männliche entspringen, ist selbstredend. Unmöglich kann man so viele gltte und wahrhaft gebildete Pädagogen auf- treiben, als es in dem wohlhabenden Oesterreich vermögende Familien giebt; unmöglich kann unter dem Schwarm hergelaufener Französinnen eine prüfende, vorsichtige Wahl stattfinden. — Sprechen wir erst von dielen letzteren, von den Gouvernanten. Wer jemals Gelegenheit hatte, in Wiener Häusern einige von diesen französischen Lehrerinnen kennen zu lernen, hat sich überzeugt, daß die crasseste Ignoranz bei ihnen die Regel, sehr bescheidenes Wissen hingegen die Ausnahme ist. Wie kann es auch anders sein? In ihrer Heimath nehmen diese Madchen nicht selten den einfachen Rang von Putzmacherinnen und wenn es hoch kommt, von Kammerjungfern ein; ich selbst habe manche kennen gelernt, welche die zweideutigste Vergangenheit hatten, und nur darum in die Fremde gingen, weil sie sich Alters halber oder wegen Unannehmlichkeiten der häßlichsten Art in der Heimat nichl länger halten konnten. Von diesen sollen dann deutsche Jungfrauen Ehrsamkeit, Sitte und Anstand lernen! Man kennt die Schwachheit deutscher Frauen, daß sie stets französischer, als die Franzosen sind; so halten sie denn ihre Kinder mit größter Strenge dazu an, ihren Lehrerinnen jede Bewegung, jede Ausdrucksweise abzulernen und so erhalten die armen Mädchen eine französische Erziehung, die in Frankreich selbst als ein „Iiorreur" gelten würde. Aber selbst der nächste Zweck, die französische Sprache, wird bei diesen Lehrerinnen verfehlt; gewöhnlich sind sie Schweizerinnen, oder Französinnen aus den niedrigsten Volksklassen, die eben mit keiner andern Kenntniß, als mit ihrer Sprache, die sie in den Gassen erlernt, ausgerüstet. Nun weiß j.-der der nur einmal in Frankreich war, welch ein Unterschied zwischen der Sprache der gebildeten Pariser Salons und der Sprache in den Gassen von Paris, oder in den Departements, oder in den fran- zösichen Cantonen der Schweiz. So kömmt es, daß wohlerzogene deutsche Jungfrauen, wenn sie später ihre Hochzeitsreise nach Paris machen und in einen Salon eingeführt werden, nicht bemerken, wie man über manchen ihrer Ausdrücke lächelt, wohl auch erröthet. — So wächst das Kind heran, fühlt schon mit zehn Jahren eine tiefe Verachtung für ihre plumpe Muttersprache und kann mit zwanzig Jahren noch kein französisches Briefchen orthographisch schreiben. Von wem hatte sie es lernen sollen? wagt es doch ihre Lehrerin selbst nicht, etwas Dictirtes ohne das Buch vor Augen auszubessern. Ist das Buch zufälliger Weise aus den Zeiten Montaigne's, bekommt das Kind einen Klapps, weil es 6et» ohne s geschrieben; am andern Tage 5Z9 wird ein modernes Feuilleton dictirt, das Kind schreibt oski-e und bekommt Hausarrest. Im spätern Alter bleiben dem Madchen alle deutschen Bildungsquellen unbekannt, denn die Gouvernante, die kein Wort Deutsch versteht, kann es doch nicht darauf aufmerksam machen, und es lernt nur jene französischen kennen, welche dem Geschmacke ihrer Lehrerin zusagen, die früher Kammerjungfer gewesen, oder jene althergebrachten, widersinnigen, an denen man das kindliche Gemüth schöpfen zu lassen gewöhnt ist. Unter diesen steht Fenelon's Telemach oben an, und das Kind muß Wort für Wort die Erzählung von den Festen der Cvprischen Göttin übersetzen, wohl auch auswendig lernen, um eine reiche 0>in'it vorboium zu erlangen. Diesem Unterrichtswesen entspricht auch die Lebensweise der Gouvernante und die Praxis ist der Theorie würdig. Wenn sich die Gouvernanten besuchen, werden in Gegenwart der Kinder die schamlosesten Gespräche geführt; wenn die Gouvernante einem Geliebten ein Rendezvous giebt, so muß die Schülerin sie begleiten, damit sie eine Ausrede habe, sauszugehen; auf der Promenade lernt das Kind alle die schönen Künste, wie man auffällt und die Aufmerksamkeit der Herren auf sich zieht, denn jede Gouvernante sucht einen Mann. Halten Sie dieses alles vielleicht für übertrieben? gewiß nicht, denn sie kennen mich als einen warmen Franzosenfreund und wissen, daß ich als ehemaliger Hofmeister in diesen Dingen reiche Erfahrungen gesammelt habe. Endlich brauche ich Sie nur zu versichern, daß ich in Frankreich eine Wäscherin hatte, die gegenwärtig die sehr hoch geehrte und bezahlte Lehrerin zweier Fürstinnen ist, und Sie kennen die französischen Wäscherinnen. In einem angesehenen Hause Wiens erkannte ein französischer Reisender in der Gouvernante ein Mädchen, das er als lustiger junger Mann schon in Lyon gekannt hatte und wunderte sich sehr über ihre Bekehrung. Aber diese Bekehrung war nicht von langer Dauer, denn als die Gouvernante ihren Platz verlor, nahm sie in den Gassen Wiens denselben Charakter an, in welchem sie schon die Gassen von Lyon gekannt hatten. Aber sind denn alle Gouvernanten ehemalige Wäscherinnen, Putzmacherinnen, Kammerjungfern und dergleichen? Gewiß nicht; es wäre Verleumdung, das behaupten zu wollen. Ich habe auch vortreffliche, brave und höchst gebildete Madchen unter ihnen kennen gelernt; aber selbst bei diesen bleibt es sehr mißlich und gefährlich, ihnen die Erziehung deutscher Kinder anzuvertrauen. Sie sind und bleiben doch Fremde und vor allem Französinnen, die nur ihre Landsleute als eigentliche Menschen erkennen und für alle übrige Welt kein Herz haben. Schon daß sie gezwungen sind, ihre Heimath, I-t Kollo Il?i-!inne zu verlassen, verbittert sie gegen die Fremden, unter denen sie leben müssen, und zeigt ihnen Frankreich in einem desto rosigem Lichte. Diese Eindrücke und Vorurtheile sind ihre pädagogischen Grundsätze, und die Kinder werden in der Verehrung alles Fremden 5,40 und in der Verachtung alles Heimischen und Deutschen auferzogen. Das sind dann die deutschen Jungfrauen, die deutschen Hausfrauen! Dazu kömmt noch, daß die gebildeten, wohlmeinenden Gouvernanten ihre französischen Lehrbücher mitbringen, und man kann denken, wie die abgefaßt sind, zumal wenn sie Geographie und Geschichte betroffen. Ich las einmal solche zwei Lehrbücher durch; da war Deutschland das rauhe, wilde, kalte Land des Nordens, daß ich wahrend des Lesens einen sibirischen Schauer empfand, die Oder floß in die Nordsee, der Rhein war ein ganz französischer Fluß, und im Thüringer Walde lag ewiger Schnee; die Geschichte stellte alle deutschen Helden als wahre Barbaren dar, und besonders in den französischen Kriegen spielten alle die schmählichste Rolle. Ich will hier keine weiteren Consequenzen ziehen, auch meinen Gegenstand nicht erschöpfend ausführen; dazu ist der Raum eines Briefes zu beschränkt. . Nur Material will ich dem Leser liefern und die Vordersatze, die Nachsätze wird er sich leicht finden und sich vielleicht manche Erscheinung in der österreichischen Bildungswelt leichter deuten können. — So will ich, wie bei den Gouvernanten, mich auch bei den Hofmeistern kurz fassen. Ich habe schon oben angedeutet, wie schwer es sei, eben so viele pädagogische Talente zu finden, als es Familien giebt, die sich einen Hofmeister halten wollen. Aber gesetzt auch, es fände sich diese ganze ungeheure Zahl von Pesta- lozzi's, Niemeyern und Salzmannern, der Ueb.isländ würde darum nicht geringer, denn der Hofmeister ist Modesache geworden, und wie man sich schöne Möbel, Reitpferde, Equipagen, Pariser Hüte ?c. anschafft, so schafft man sich auch einen Hofmeister an. Brauche ich nun noch zu sagen, auf welche Weise man bei der Wahl der Lehrer seiner Kinder zu Werke geht? Von Grundsätzen ist da nicht die Rede, sondern bloß von Geschmack oder zeitweiliger Hausgrille. Die eine Dame liebt einen eleganten jungen Mann, der sich an der Seite ihrer Kinder gut ausnimmt, die zweite einen guten Gesellschafter, den man bei Soiröen und Dinöes gut verwenden kann, die dritte einen der sie auf dem Fortepiano gut begleiten kann, die vierte einen der gut declamirt, die fünfte einen Versemacher, denn sie beschützt Künste und Wissenschaften u. s. w. Das Uebrige ist oft Nebensache. So kömmt es häufig, daß die verlorensten Subjecte, deren sittlicher Gehalt eben so wenig Zutrauen einflößt, als ihre Kenntnisse, nur weil sie irgend ein geselliges Talent besitzen, mit dem heiligen Amte des Kinder- crziehens betraut werden. Allein das Uebel grassirt nicht nur in den reichen und sogenannten obern Ständen, es hat sich auch schon auf die untern ausgedehnt, und die tröstliche Erscheinung, daß aus den armern und mittlern Klassen bedeutende Menschen oder würdige Bürger hervorgehen, fallt in Wien gänzlich weg. Man kennt den unglückseligen Hang der Wiener zum Luxus und ihre afsische Nachah- 54! mung der reichen und höheren Stände. Da nun bei diesen die Hofmeister Mode sind, so darf man auch hierin nicht zurückbleiben, und, wie die kleine Kaufmannsfrau einen Paradiesvogel auf ihren Hut steckt, weil es die Fürstin X. oder die Gräfin Y. gethan, so legt sie ihrem Hauswesen auch einen Hofmeister bei. Da aber die Hofmeister eine theure Waare sind und man doch auch das Geld auf Hüte, Putz und Equipagen ersparen will, so nimmt man den ersten besten, wenn er nur wohlfeil ist. Man kann auch hier leicht denken, welcher Art diese Erzieher sind, gewöhnlich Menschen, die zu nichts anderem mehr taugen. Glücklich, wenn es ein armer Student ist, der doch etwas Wissen hat und seine Zeit in Lern- und Lehrstunden theilt, um sein Leben zu fristen. Aber selbst unter diesen — welche Massen Exemplare von Ignoranten findet man da oft! Auf der Universität sind sie gesetzlich und ausschließlich mit ihrer Brodwissenschaft beschäftigt, und was kann Medicin oder das römische Recht die Kinder von zehn bis zwölf Jahren fördern? Wie groß die humanitäre Bildung ist, die man auf österreichischen Gymnasien gewinnen kann, ist genugsam bekannt. Trotzdem ist es selbst bei diesen Lehrern ein Glück zu nennen, wenn man ihnen allein den Unterricht der" Kinder überlaßt- Sehr oft wird ein Theil desselben den Gouvernanten übertragen, damit die Knaben mehr Uebung in der französischen Sprache bekommen. Nun denke man sich künftige deutsche Männer, die von solchen Damm den ersten Unterricht in der Weltgeschichte erhalten.. Alles was ich von den französischen Gouvernanten gesagt habe, gilt auch von den französischen Gouverneurs, die in den sehr nobeln Hausern schon Mode sind und in wenigen Jahren vielleicht auch schon beim Kaufmann Mode sein werden. Es sind gewöhnlich Menschen, die mit keiner andern Kenntniß, als mit der ihrer Muttersprache ausgerüstet in die Welt laufen, um einen Platz zu suchen und ihr Glück zu machen. Sie wissen höchstens etwas von Frankreich. Einen kannte ich, der auch das nicht wußte, denn er war, bevor er Lehrer in Wien wurde, ganz gemeiner Arbeiter in einer Champagnerfabrik bei Neufchatel. — Halten Sie das für übertrieben? nun so kann ich Sie versichern, daß jene Wäscherin, von der ich Ihnen oben erzählte, als sie sah, wie gut es sei,, zu lehren, ihren Bruder, einen Tischlergesellen, als Hofmeister für die Prinzen berief, deren Schwestern sie selbst unterrichtete und erzog. Noch heute sind Bruder und Schwester an ihrem Platze, die zarten Sprößlinge sind ganz und gar in ihre weise Obhut gegeben und es geht ihnen ganz wohl und sie lassen vielleicht nächstens ihre Cousine, die Handschuhmacherin, und ihren Cousin, den Schustergesellen, nachkommen, um ihnen die Sprößlinge eines erlauchten Hauses zur Erziehung zu übergeben. Nun ich Ihnen ungefähr die Lehrer charakterisi're habe, wäre es Srenzwen I. 71 5,42 eigentlich am Platze, Ihnen die Schüler zu schildern, die aus einer solchen Schule hervorgehen, aber das würde mich hier zu weit hiehin, auch ist es ein zu trauriges Thema. Diese Caricatunn von Erziehern geißelt man gerne und leicht; denkt man aber an die armen Kinderseelen, die ebenfalls zu Caricaturen gemacht werden und vielleicht schöne Menschenbilder werden könnten, so blutet einem das Herz. Das Aergste bei der Sache ist, daß die Wiener das Uebel nicht erkennen und dergleichen Klagen ihnen lächerlich oder übertrieben vorkommen müssen, weil sie kein anderes, besseres Beispiel kennen, das ihnen den Contrast lebhaft hervorheben könnte. Ich verweise Sie nur noch auf mehrere Artikel, welche die Wiener „Sonntagsblatter" schon vor mehreren Jahren brachten und die über denselben Gegenstand klagten. Aber sie wurden eben so wenig beachtet, als dieser berücksichtigt werden wird. Das Uebel wurzelt zu tief, eben so wohl im Leichtsinn der Wiener, als in gewissen politischen und administrativen Institutionen. So lange der Wiener aus seinen Kindern nichts besseres machen will, als recht nett ausgeputzte Salonspuppen, und so lange ein Vater, der das Bessere will, in den öffentlichen Schulen nicht die Mittel zum Zwecke findet, so lange wird das Uebel nicht gehoben, und eine Generation nach der andern wird leer, parfümier, einbalsamirt vorübergehn. Wann werden wir Schulen haben, wie Norddeutschland? X. IV. A u s H a in b u r g. Neue Dampfschifffahrt zwischen Hamburg und Hull. — Hamburger Unter- scheidungsgabe. — Hamburg und Mona. — Die Austern- und Gcmüsefurcht. — Der Schauspieler in der Wache. Im Mai d. I. tritt ein neues Dampsschifffahrts-Unternehmen in's Leben. Es ist eine zwischen Hull und Hamburg etablirte Linie, welche mit der schon seit geraumer Zeit bestehenden Hanseatischen Dampfschifffahrs-Gesellschaft concurrirt. Die neue Compagnie läßt gegenwärtig in England ihre Schiffe bauen, welche Schraubendampf- böte sind und 8V Pferdekraft haben werden. Die früheren hohen Krachten werden durch diese jüngere Linie bedeutend ermäßigt, was auch Hauptzweck der Unternehmer, eines Bereines reicher Manufactur- hauser, gewesen sein soll. Man hat wenigstens bis jetzt keine gerechte Ursache, in die gegebenen Versicherungen Zweifel zu setzen, wie heftig auch anfangs gegen das Project von Seiten der Concurrenten geeifert wurde. Es ist übrigens ein löblicher und oft beobachteter Charakterzug der Hamburger, daß sie die Parteiäußerungen von der unbefangenen Darstellung und einer lauteren Motiven entstammenden Besprechung, sei es welcher Sache immer, mit klugem, geübtem 543 Blicke zu unterscheiden wissen. Etwas Gutes, Praktisch-Nützliches, wird ihnen durch eine gehässige Polemik selten verleidet. So nahm auch die Actienzeichnung zu der hier in Rede stehenden Entreprise einen ungehindert günstigen Fortgang; es konnte demnach der sehr theure Bau von drei Dampfschiffen in England betrieben werden und ein viertes wird vermuthlich im Laufe des Sommers dort hergestellt. Während dieses kostspielige, in unsere merkantilischen Beziehungen zu England tief eingreifende Unternehmen so rasche und ersprießliche Theilnahme gefunden, strengt man sich in Akkon« vergebens an, zwischen dieser Stadt und dem gegenüberliegenden Harburg eine Dampfschifffahrtsverbindung zu Stande zu bringen. Bisher fanden nur von hier aus nach jenem Orte directe Fahrten Statt. Warum sollten aber die Hamburger nicht einmal von ihrer Nachbarstadt eine Concurrenz zu erdulden haben? Bieten wir den dänischen Holsteinern doch unablässige gefährliche Concurrenz in so mancher Beziehung. Nehmen wir nur einmal den Fremdenbesuch. Was in Altona anlangt, wird von dem großen Polyp Hamburg mit seinen hundert Gliedmaßen schnell an sich gerissen. Vergnügen, Geschäfte, bunt wechselnder Lebensgenuß, wohlfeile Zerstreuungen im Beobachten unsers Straßen- und Hafentreibens — was trägt nicht alles dazu bei, den guten Altonaern ihre Gäste nach Hamburg zu entführen! Man denke nicht, daß wir deßhalb auch nur ein dankendes Kopfnicken schuldig zu sein glauben. Es muß so sein. Es steht im Buche des Schicksals und der Städtescheidung so geschrieben. Hamburgs Nahrungsquellen werden durch Eröffnung der Berlin-Hamburger und der Hamburg Han- növerschen Eisenbahn sich noch merklich erweitern. Die Strömungen, das Austauschen von Menschen und Waaren —- im ausgedehntesten Sinne — dürsten zwischen den angegebenen Punkten erstaunlich lebhaft werden. Wissen Sie aber, daß uns Hamburgern in Bezug auf die Berliner eine seltsame Furcht heimsucht, die mehr und mehr wächst, je näher wir der Eröffnung jener Eisenstraße kommen. Es ist die Austern- und Gemüsefurcht! Sie lachen? El, zu frühzeitig. Nur zu sehr läßt sich jene Besorgnis) und der dafür gewählte Ausdruck rechtfertigen. Was zum Henker, wär' es nicht ein abscheuliches Malheur, wenn die hungrigen Berliner mit ihren Sandmägen uns die Austernl'erge on nasse verschlängen, oder zum Nimmerwiedersehen verpflanzten in das märkische Paradies? — Und die köstlichen Gemüse, d'e üppigen Grünsrüchte, welche aus den fetten Gartenlauben der Umgegend Hamburgs auf unsern Markt kommen, wie werden allein die Berliner Hotelbesitzer eilen, sich für ihr preußisches Publicum dieser Herrlichkeiten zu bemächtigen. Ganze Frachtwagen voll seh' ich schon im Geiste entführen und am Ende eine Karavane von Vierlanderinnen, von Altländerinnen u. s. w. in ihren diversen 71 - 5t4 Nationaltrachten dazu. Ach, und von den Fischen, Hummern, Seekrebsen, u. s. w. ist noch gar nicht die Rede gewesen. Ich habe Ihnen von dem anstößigen Theatervorfall und der daraus entstandenen Reklamation des preußischen Gesandten neulich geschrieben. Die Sache hat einen merkwürdigen Ausgang genommen. Der betreffende Schauspieler mußte allerdings auf Senatsverfügung acht Tage in der Großncumarktswache campiren, wo indessen Austern, Champagner und zahlreicher Besuch von Freunden ihm die Langweile vertrieben. Wieder freigelassen, begleitete ihn — es war Abend — ein starker Haufen nach seiner im Jungfernstieg belegenen Wohnung. Hier vermehrte sich die Menschenmasse außerordentlich» es wurden Herrn B. donnernde VivatS gebracht, und als er am Fenster erschien, brach ein Hurrahgeschrei über das andere los. Ich dachte schon, sein für den nächsten Abend annoncirtes Wiederauftreten würde, dieser Vorfalle halber, von Polizeiwegen untersagt werden. Doch geschah das nicht, und obwohl man ein so abgedroschenes Stück wie „Richards Wanderleben" gab, war das große Stadtiheater gedrängt voll. Ein minutenlanger Donnerapplaus empfing den beliebten Schauspieler, das „Opfer" eines ministeriellen Einflusses in der freien Hanseestadt Hamburg. Es soll, erzählt man sich nun hier, in Berlin Verdruß gemacht und dem Minister einen Verweis zugezogen haben, daß sein unzeitiger Eifer auf eine Theateralbernheit so großes Gewicht legte und einen Eclat herbeiführte. V. Landsmannschaftliche Liebesdienste. Der Rheinische Beobachter brachte vor einigen Wochen einen langen Artikel unter der Ueberschrift: „J.Kuranda und die flamän- dische Bewegung." Es versteht sich von selbst, daß an dem Redacteur dieser Blatter kein gutes Haar gelassen wurde. Ich hatte es für überflüssig gehalten, auf jenen Artikel zu antworten; das Publicum, welches die Stellung der Parteien und ihrer Blätter kennt, versteht den Zusammenhang. Indessen scheinen Andere anders zu denken, und die Reclamationen einiger Freunde, die in jenem Artikel unter dem Namen „Kurcmdagenossen" figuriren und mit beleidigt sind, nöthigen mich, die geheimen Fäden jenes Angriffes aufzudecken und zugleich einen piquanten Beitrag' zur Geschichte der Deutschen im Auslande zu liefern. Der erwähnte Aufsatz ist quasi aus Antwerpen datirr und mit Jakob Ticlemans unterschrieben. Ist dies ein Deutscher oder ein Flamänder? Von den flamändischen Schriftstellern versucht es, so viel wir wissen, kein einziger in deutscher Sprache zu schreiben; es ist also ein Deutscher. Hören wir, was unser Landsmann aus Antwerpen zu berichten hat:--„Leider gibt es unter den Deutschen Leute „genug, die am .Zersetzen und Zersetzen ihre Freude haben und die 545 „Blüten des ächten Schönen, die in den Sonnenstrahlen des Friedens gedeihen, nun einmal nicht leiden mögen ... In diesen Kritikastern scheint auch Ignaz Kuranda zu gehören, dessen Buch unter „allen vaterlandischgesinnten Flämingen die tiefste Entrüstung hervor- „gerufen.... Sie mögen sich trösten. Wer Sinn für eine edlere „Volksbildung hat, der wird sein Urtheil nicht von Kurandas Belle- „ben abhangig machen, besonders da die schönen Neiseerin- „nerungen der geiht- und poesievollen Louise von Plön- „rief jedes Wort Lügen strafen. Man lese die flämischen Gedichte, „dieFrau vonPlönnies in vortrefflichen Uebersetzungen „ihrem Buche eingewoben und man wird, wenn es nicht schon vor- „her geschehen, von Kuranda sich mit Unwillen abwenden. Was aber „die Kurandagenossen dazu sagen, ist den Flämingen, einem Willens, „van Duvse, Conscience, de Laet, Blommaert und ihren Freunden „hoffentlich einerlei" .... „Kaum regte es sich in Flamland, kaum „vernahm man anderswo, daß es endlich, seine Französelci abschüttelnd, „die Blicke wieder nach Deutschland wende, als es auch an Emissären „aller Farben nicht fehlte, welche um jeden Preis verhüten sollten, „daß die Flamänder in die Hände der einen Partei si.im, welche das „reine Evangelium der andern dort zu predigen hatten." (Was heißt das?) „I. Kuranda hatte solch eine Sendung übernommen: die „Grenzboten wurden die Blatter für Deutschland und Belgien zur „Vermittelung ihrer gegenseitigen Interessen. Die Flamänder sahen „das Journal mit hoher Freude erstehen; mehrere unter ihnen, wie „Blommaert, Conscience, Willens u. Ä. sagten ihre Mitwirkung zu; „der Redacteur forderte in den literarischen Blättern Genes und Antwerpens die flamändischen Schriftsteller auf, ihm ihre Werke zur „Recension zu senden'^. . . . „Da trat Herr Kuranda plötzlich mit „einem großartigen Plane hervor, dem namentlich, die Flamänder ihre „Sprache abschwören zu machen (??) und sie Hochdeutsch zu lehren. „Die Flamänder aber meinten, das werde so bald nicht gehen, und „ließen Hrn. Kuranda und seine Grenzboten und wollten keine Lee- „livrer von ihm. Da wurde Kuranda bös und wollte auch nichts „mehr von ihnen wissen; eine kleine Rache an ihnen aber sparte er „sich auf, und diese übt er nun in seinem Buche: Belgien seit seiner „Revolution, in dem Artikel: Deutschlands Interesse an der flaman- „dischen Bewegung, in welchem er zwar scheinbar den Flamändern „die Partei hält, endlich aber nur die alte beleidigte Schulmeister- „aime zeigt." In diesem Tone geht es weiter. Herr Tielemans aus Antwerpen unterwirft die zwei Kapitel meines Buches über Belgien, welche von flamändischer Literatur sprechen, seiner Kritik, wobei er in seinem delikaten Style von Hanswursterei und Unverschämtheit spricht, weil in dem Buche den Flamändern angerathen wird, durch Uebersetzung deutscher Classtker ihre Sprache zu bilden. Sollte ich es wirklich, nöthig 546 haben, mich gegen diesen Vorwurf zu vertheidigen? Ein deutsches Blatt fällt einen deutschen Autor an, weil er einem verbrüderten Nachbarvolke zuredet, sich mehr mit hochdeutscher Sprache zu beschäftigen. Wahrlich, man muß Mitarbeiter des Rheinischen Beobachters sein, um das Recht zu haben, solche Bornirtheit zu Markte zu bringen, man muß der Rheinische Beobachter sein, um dies aufzunehmen; und nur dem Rheinischen Beobachter ist es gegeben, seine Waffen gegen ihm mißliebige Schriftsteller blind auf allen Misthaufen zusammenzusuchen, ohne zu fühlen, daß die Waffe den Angreifenden und nicht den Angegriffenen beschmutzt. Zudem, wer hat in den Grenzboten, wer hat in dem Buche: „Belgien seit seiner Revolution", auch nur einen Satz gefunden, der „die Flamänder ihre Sprache abschwören machen" will? Jene incri- minirten zwei Kapitel aus meinem Buche, die, wie Herr Tielemans berichtet, „unter allen vaterländischgestnnten Flämingen die tiefste Entrüstung hervorgerufen", sind von mehrern deutschen Blättern im Auszuge mitgetheilt worden, sie haben bereits im Jahre 1843 in den Grenzboten gestanden, und Jedermann hat die Wärme anerkannt, mit welcher darin der flamändischen Sache das Wort geredet wird; Jedermann, d. h. nicht blos die deutschen Redacteure, sondern auch die flamändischen Parteiführer und allen voran gerade die Herrn Willens und de Laet, deren „tiefste Entrüstung" Herr Jakob Tielemans vermeldet! Wichtiger und ehrenrühriger ist die zweite Anklage im Rheinischen Beobachter: daß ich in dem erwähnten Kapitel einige zwanzig Zeilen aus einer französischen Broschüre I-l Iiui^lip et.lmiuxlv, prajvt ti'uno ortkn^rspno ?c. v-«- IluKeit Vienn«ni>s,vo» übersetzt habe, und zwar ohne Gänsefüßchen dabei zu setzen. Plagiat! schreit der entrüstete Tielemans. „Zwar," sagt er selbst, „Herr Kuranda könnte uns einwerfen, daß er seine Quelle citire, nur citirt er sie nicht als seine Quelle, sondern eben so nebenher." Diese Plagiatsanklage verdient näher beleuchtet zu werden, da sie einrn Maßstab für die Gewissenhaftigkeit anderer Denunciationen des Rheinischen Beobachters giebt. Zuerst h,,t der tugendhafte Herr Tielemans jene zwanzig Zeilen aus verschiedenen Seiten zusammengeklaubt und aneinandergereiht. Die Folgerungen und Raisonnements, die dazwischen liegen, thut Herr Tielemans immer mit den Worten ab: „Hier folgen wieder einige Kurandiana." Zweitens citirt er als Plagiate Stellen, wie die folgende: „Elsaß, das französische Flandern, obgleich ihre Administration bereits seit zwei Jahrhunderten in der Sprache der Regierung stattfindet, haben doch ihre alte Sprache beibehalten." Wunderbares Plagiat! Gestohlener Gedanke! Consequenter Weise sind dann auch Entdeckungen wie folgende: Brüssel ist die Hauptstadt Belgiens, oder Belgien wird von der Schelde und der Maas durchzogen, oder: Antwerpen besitzt 547 einen ausgezeichneten Hafen, nichts anderes als Plagiate. Denn alle diese „Gedanken" haben wahrscheinlich schon anderswo gestanden! Wenn Herr Tielemans erst wüßte, was ich alles aus den statistischen Tabellen, aus den Kammerverhandlungen, aus dem Moniteur belge, aus den officiellen Berichten über Schul- und Kirchenwesen, über Pauperismus und Preßprocesse geschöpft habe! , Eine Kleinigkeit hat Herr Tilemans übersehen. Jene zwei Kapitel, welche so viele Plagiate aus der Broschüre des Herrn Vandcn- hoven enthalten sollen, sind Wort für Wort bereits in den Grenzboten, im August 1843, gedruckt erschienen, wahrend die verhängnißvolle Broschüre erst zu Ende des Jahres 1844 erschien!! Ich beeile mich zu bemerken, daß auch Herr Vandenhoven keineswegs ein Plagiat an mir begangen hat; denn Herr Vandenhoven ist Niemand anders als mein sehr werther Freund, Herr it., Vice- präsident am Tribunal erster Instanz zu Brüssel, einer der Wenigen in Belgien, welche die Annäherung zwischen Vlaemcn und Deutschen zu ihrer Lieblingsidee machen. Jahrelanger Umgang, wechselseitiger Austausch von Ideen lassen in den literarischen Arbeiten zweier Freunde manche gegenseitige Anklänge zurück. Dies brauchte Herr Tielemans allerdings nicht zu wissen,—'d.h. wenn er es nicht wüßte! wenn Herr Tielemauns wirklich ein Herr Tielemanns, wenn er wirklich aus Antwerpen wäre, wenn seine Citate nicht absichtlich verfälscht waren, wenn nicht der ganze Artikel einer jener schmählichen lands- manschaftlichen Liebesdienste wäre, die man von jeher gewohnt ist, daß sie ein Deutscher dem andern im Auslande erzeigt, weil seine Seele das Bischen Anerkennung nicht ertragen kann, das man dem Landsmanne neben ihm zollt. Ich fordere den Rheinischen Beobachter, den tugendhaften Streiter für Gott und König auf, uns sein Wort zu geben, daß er den Artikel aus Antwerpen erhalten und daß er nicht wußte, wer Herr Tilemans ist? Um ihm eine Lüge zu ersparen, will ich ihn von vorn herein auf zwei Dinge aufmerksam machen: Die Herren Conscience und Dekane die so „entrüstet über mein Buch sich zeigten," behaupten, es gebe in ganz Antwerpen keinen Tielemanns und beweisen mir, daß zu gleicher Zeit wo der Artikel im Rheinischen Beobachter erschien, noch kein einziges Exemplar meines Buches in Antwerpen sich befand, und sie es daher gar nicht kannten; wo hat also der ehrenwerthe Herr Tielemanns ihr Urtheil vernommen? Ich könnte, wenn ich die schmutzigen Fäden dieser Geschichte aufdecken und den wahren Namen des Verfassers nennen wollte, einen gar piquanten Beitrag zur Geschichte der Deutschen im Auslande liefern; allein da darin der Name einer literarischen Frau figuriren müßte, die ich vor der Hand noch schonen möchte, so 'will ich die nähere Auseinandersetzung mit Stillscheigen übergehen. Jener 548 Dame möchte ich aber' rathen, daß sie ihrem Schwiegersöhne den Austrag gebe, er solle in Zukunft bei kritischen Familicndiensten die Ehre anderer Schriftsteller unbeschmutzt lassen und diese nicht zwingen, alle Schonung und Galanterie bei Seile zu setzen und durch nähere Enthüllungen die Frau Schwiegermutter dem Gelächter und den Herrn Schwiegersohn der Verachtung Preis zu geben. Ki^ionü «ne. I. Kuranda, VI. N o t i z. Verschiedene Aufnahme der polnischen Jnsurrcctionöversuchc. Wie verschieden ist die Aufnahme, welche die polnischen Jnsur- rcctionsversuche in England und in Frankreich fanden. England, welches so eben die Eroberung eines neuen Reiches in Hinterasien begonnen hat, welches sich zu einem friedlichen Krieg auf Tod und Leben mit dem Zollvereine rüstet und auf einen Seekrieg mit seinem Riesensohn Amerika gefaßt macht, England empfing die Nachricht von den Bewegungen im slawischen Osten wie ein Geschäftsmann, dem man in der heißesten Comptoirstunde von einem tollen Studentenstreich erzählt. Die polnischen Berichte wurden so lange nicht geglaubt oder ignorirt, bis mit der Bestätigung des Anfangs zugleich die Nachricht vom Ende einlief. Uebrigens ermahnte Peel, als im Unterhause die Minsker Verfolgungsgeschichte aufs Tapet kam, die ehrenwerthen Mitglieder, sich nicht in „die innern Angelegenheiten" fremder Reiche „einzumischen," damit sich nicht einmal auch Franzosen oder Russen in die innern Angelegenheiten Großbrittaniens (z. B. Irlands) einmischen könnten. — Frankreich dagegen, das heißt das Volk, war gleich zum Krieg bereit, um die Insurgenten zu unterstützen. Der National, der Siecle, die Gazette de France, die Organe aller Parteien, wetteiferten in Enthusiasmus, obgleich man nicht so sanguinisch war, sich den Sieg Polens leicht zu denken, oder alles zu glauben, was die Fama berichtete. Der Courier Francs ging mit Courierfchritten auf die Weichsel los, und die schwankende Haltung, die Preußen anfangs zu beobachten schien, wurde allgemein auf das günstigste ausgelegt. Die Franzosen muthen uns überhaupt manchmal Eigenschaften zu, die wir nicht besitzen. Die stille beschauliche Polensympathie des deutschen Publicums wurde in Paris eine „drohende Gährung" genannt, und ein Blatt rief: Wenn Preußen mit uns geht, so garantiren wir ihm Sachsen und die Ost- seeprovinzen. — Man braucht deshalb in Dresden nicht besorgt zu sein. Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda. Druck von Friedrich Andr ä. Tage b u es. F Professor Jordan's LeidensgeMirte»,. Aus Frankfurt. Hatte der Gegenstand, welchen ich hier zur Sprache bringe, mit Politik zu schaffen, so würden Sie, da ja Alles Politik will, den folgenden Bemerkungen ohne Zweifel die Aufnahme gestatten; da er aber nur die Menschlichkeit angeht, so darf ich mich um so überzeugter halten, daß Sie mir durch das Organ der Grenzboten Gehör verschaffen, als ich noch nirgends, nicht einmal bei Jordan selbst, auf Mitgefühl mit seinen Leidensgefährten getroffen habe. Auch will ich Ihnen offen sagen, was mich bestimmt hat, zu Ihnen zu flüchten. Es wurde mir in diesen Tagen angeboten, die Sache, wenn sie den Deutschen doch so gefährlich scheine, in den Times zur Sprache zu bringen, und so derb, als ich nur Lust hätte; man wollte mir's übersetzen und hineinbesorgen. Ehe ich das thue, dachte ich, ehe ich uns vor dem Auslande herabsetze, ehe will ich alle Rücksicht auf die Censur nehmen und so leis auftreten, als ging ich auf Glatteis. Sie werden sich aber sogleich überzeugen, daß ich nichts Gefährliches vorhabe, und nur deshalb so ängstlich und besorgt geworden bin, weil ich zu einem kleinen unschuldigen guten Werke bisher vergeblich nach einem Helfershelfer suchte. Es ist ein schöner Zug an uns Deutschen, daß wir uns über das Gute freuen, welches auswärts geschieht; sind wir dadurch doch der Verlegenheit überhoben, uns über uns selbst zu freuen. Wie hat uns nicht die Amnestie erhoben, welche Pius IX. den politischen Verbrechern im Kirchenstaate zu Theil werden ließ; selbst in Spanien sind kürzlich Begnadigungen erfolgt; wie schön doch! Aber weil wir Spanien und Italien in politischer Beziehung so tief unter uns erblicken, als wir selbst unter Frankreich und England zu stehen glauben, so ist es bei dieser Gelegenheit Niemandem eingefallen, daß bei uns noch politische Grenzboten. IV. Is-i». HZ 394 Verbrecher vom Anfange der dreißiger Jahre her im Gefängnisse schmachten, ja, daß über mehrere jener Unglücklichen das verdammende Urtheil erst vor Kurzem erfolgt ist. Das Oberappellationsgcricht in Kassel hat die Entscheidungen des Marburger Criminal-Senates gegen den Universitätszeichnenlehrer l)i. H a es und den Hutmacher Georg Kolbe bestätigt. Den erstern, einen gebildeten*), fleißigen und ordnungsliebenden Mann, hatte Neugierde und Schwatz- haftigkeit thörichte Dinge hören und sprechen lassen, das war Alles, und freilich viel zu viel. Uebrigens stellen selbst die Marburger Entscheidungsgründe mit einem nicht zu verkennenden Mitleid den Hach als einen sehr zu entschuldigenden, oder wie man im gewöhnlichen Leben diesen Ausdruck gebraucht, als einen unschuldigen Mann dar, der weder die Fähigkeit, noch die Absicht gehabt habe, zum Umsturze der Welt etwas beizutragen. Obgleich meine Vertheidigung Jordans hauptsächlich nur Einem zu Gute gekommen ist, so hatte ich doch allen in seinen Proceß Verwickelten zu nützen gewünscht, sowohl weil er die unschuldige Ursache des Unglückes Aller war, als weil ich es ungeachtet, ja grade "wegen meiner konservativen politischen Grundsatze nicht billigen konnte, daß man in Kurhessen, Dinge wieder heraufbeschwöre, welche man sich fast überall bemüht hatte, in die Nacht der Vergessenheit zu versenken. Wären die Entscheidungsgründe erster Instanz in Bezug auf Hach und Kolbe so ausführlich gewesen, als sie es in Bezug auf Jordan waren, so hätte sich, glaube ich, auf ein milderes Urtheil in zweiter Instanz hinwirken lassen, als jetzt erfolgt ist. Durch die Entscheidungsgründe des Oberap- pellationsgerichts ist auf Beider Sache etwas mehr Licht gefallen, und ich bin der festen Ueberzeugung, daß sie in höchster Instanz härter als billig und gerecht abgeurtheilt sind. Hätte das Publicum noch Interesse dafür und könnte es den Unglücklichen noch nützen, so würde ich das, wie ich glaube, ohne große Mühe beweisen können. Auf eine Begnadigung ist nicht zu hoffen, denn die Urheber der kurhessischen Verfassungsurkunde, welche besorgten, daß ihnen die nächstens in Anklagestand zu versetzenden Minister entrinnen möchten, haben durch §. 426. dem Landesherrn das Recht der Begnadigung politischer Verbrecher genommen, und also die Reaction nicht blos hervorgerufen, sondern ihr auch die Mittel in die Hände gegeben. In dieser Hinsicht kann die Regierung kein Tadel treffen, und das Einzige, was das deutsche Volk zu thun vermag, ist, daß es die Theilnahme, welche es an der Begnadigung der unglücklichen und nachträglichen Opfer einer aufgeregten Zeit nehmen würde, jetzt durch Unterstüz- zung ihrer Familien an den Tag lege. Sowohl Hach als Kolbe haben Frau und Kinder, der erstere ist seines Dienstes als Universttätszeichncn- lehrcr entsetzt und damit seines Gehaltes und für die Zeit seiner Haft jedes Nebenverdienstes, verlustig. An die liberalen Herren, welche blos „ *) . Er hat mehreres geschrieben, z. B.- Ein PhysiognomischeS Hülff- und Taschenbuch für Gebildete, Marburg t8»7. 395 für sogenannte berühmte Männer sammeln, die nicht nur einen Namen haben, sondern auch geben, hat man sich umsonst gewandt; ihre Politik erlaubt ihnen nichts zu thun, sie schützen vor: Hach habe nichts gethan, sei kein politischer Charakter, und vor allen: er sei schuldig und das Oberappellationsgericht nahe daran gewesen, seine Strafe noch zu schärfen. Ich brauche nicht zu heucheln, weil ich nicht zu fürchten brauche, daß man bei mir eine andere Theilnahme, als an dem Unglücke dieser Männer argwöhnen werde. Jede Gabe, welche man an die Frau Hutmacherin Kolbe und an die Frau Dr. Hach in Marburg sendet, wird von Beiden mit heißem Dank empfangen werden. Sie sind so unglücklich, als einst die Jordan'sche Familie, und weit bedürftiger, als diese je war. Noch ein anderer Umstand steigert die Theilnahme an dem Schicksal dieser politischen Gefangenen. Sie sind Festungsgefangene, und obwohl sie gesetzlich auch nach erfolgten Urtheile und wahrend sie ihre Strafe erleiden, unter dem Schutze der Gerichte stehen, so wird es diesen doch factisch unmöglich gemacht, diesen Schutz auszuüben; denn die Festungen stehen unter den unmittelbaren Befehlen des obersten MilitairchefS des Landes. Die allgemein bekannte Behandlung der politischen Gefangenen, und die Furcht vor dem Schicksale des Bürgermeisters Ol-. Scheffer von Kirchhain, welcher bekanntlich wahnsinnig wurde und sich selbst entleibte, so wie seine schwache Gesundheit und die Sorge sür seine Familie bestimmten den Or. Hach schon in seiner Appellatlonsschrift (Entscheidungsgründe zweiter Instanz S. 132.) „sich darüber zu beschweren, daß das Maß der mit „„Fcstungsstrafe"" bezeichneten Freiheitsbeschränkung im Urtheil (erster Instanz) nicht ausgedrückt, namentlich nicht dahin festgestellt worden sei, daß dem Angeschuldigten der Zugang des Lichtes durch gehörige Fenster, so wie literarische Beschäftigung und der Betrieb der ihn und seine Familie ausschließlich ernährenden Malerei gestattet sei. Appellant hat eventuell gebeten: in diesem Sinne die erkannte Festungsstrafe rechtlich festzustellen." Hierzu bemerkt das Oberappellationsgericht: „Die Art und Weise der Verbüßung der erkannten Festungsstrafe darf zwar für den Verurteilten keine härteren Leiden herbeiführen, als es der in den bestehenden Rechtsverhältnissen begründete Begriff einer Festungsstrafe mit sich bringt. Sollten in solcher Beziehung Zweifel sich erheben, so würde es allerdings dein Gerichte obliegen, durch entsprechende Requisitionen die gehörige Vollziehung des Erkenntnisses zu sichern, indem nach deutschrechtlichen Grundsätzen dem Strafrichter die Vollstreckung seiner Urtheile zukommt, und, wenn auch die Verbüßung der Strafe in den, der Aufsicht der Gerichte, nicht unterworfenen Strafanstalten erfolgt, hierdurch die den Gerichten zustehende Einwirkung auf die Strafverbüßung, da diese nun in Folge der richterlichen Requisition eintritt, nicht ausgeschlossen wird." Zur Ehre der kurhessischen Regierung darf man annehmen, daß nicht Jordan's Freisprechung, sondern Stellen wie diese dem Referenten Gürste Mißfallen und Entfernung aus dem Oberappellationsgerichte zuzogen. Auch ist keine Aenderung in der Behandlung der politischen 53* 396 Festungsgefangenen eingetreten. Nach einem mir mitgetheilten Briefe seiner nächsten Angehörigen darf er /ich gar nicht beschäftigen, weder mit' Lesen, noch Schreiben, noch mit irgend einer andern Arbeit. Briefe seiner Familie an ihn kamen uneröffner zurück. Die Familie scheint ohne Rathgeber zu sein, denn statt an die Gerichte, hat sie sich an den Fürsten, unter dessen unmittelbarem Befehl der Festungscommandant steht, und an das Kriegsministerium gewandt. Das letztere hat die Familie an den Festungscommandanten verwiesen, welcher gleichfalls ablehnend oder ausweichend geantwortet habe. A. Boden. >s. Ans Berlin. I. Kcakau und Schlesien. — Die Breslauer Hcmdelöbeputation bei den Ministern. — Ein Gespräch bei Herrn von Canitz. — Der Prinz von Preusten. — Die Audienz bei dem König. — .Unsere officielle und officiöse Journalistik beobachtet über das Krakauer Ereigniß ein merkwürdiges Stillschweigen, und überläßt es dem österreichischen Cabinette qanz allein den Zeitungskampf auszufechten. Wir könnten hier eine Menge der piquantesten und widersprechendsten Aeußerungen einregistriren, die von hiesigen Staatsmännern und erfahrenen Politikern über diesen unerwarteten Schritt der drei Mächte laut wurden; doch kommt es uns vor der Hand nur darauf an, von dem Eindrucke zu sprechen, den dies Ereigniß in Schlesien gemacht hat, das mit dieser Abtretung Krakaus den Hauptausfuhrplatz für seine Industrie verliert, und dies — etwa zwei Jahre nach den Weberunruhen, zwei Jahre nachdem man in ganz Deutschland für die brodlosen Fabrikarbeiter betteln mußte; und grade jetzt während einer Kartoffel-Mißernte im Lande. Eine Deputation der Stadt Breslau fand sich in Folge diefes Ereignisses hier ein, um die Klagen und Bitten der Provinz vor das Ohr des Königs zu bringen. Sie bestand aus dem Oberbürgermeister Pinder, den Fabrikanten Dyrenfurth und Milde, dem Stadtverordneten-Borsteher Justizrath Graff und dem Vorsteher der Kaufmannschaft, Theodor Mo- linani. Sie hatten es übernommen auszusprechen, wie sehr das Natio- nalgefühl des Volkes gekränkt sei, durch diese Abtretung, in der das Interesse Preußens in keiner Weise gewahrt worden sei, und zweitens auseinander zu setzen, wie man den Hauptabzugscanal des schlesischen Handels verstopft habe, und wie die Bevölkerung demoralisirt'werden müsse, indem sie, gezwungen durch Noth, Ersatz suchen werde in dem kläglichen Erwerb durch Schleichhandel. Der erste Besuch der Deputirten galt dem Ehef der Seehandlung, Rother, der, selbst Landbesitzer in Schlesien, und die - sse der Provinz genau kennend, diese Abtretung Krakaus sehr bedauerte, aber versicherte, erst durch die Zeitungen Nachricht davon erhalten^ zu haben. 397 Der Minister Bodelschwingh, den man darauf besuchte, behauptete ebenfalls, nicht dabei zu Rathe gezogen zu sein. In ähnlicher Weife äußerte sich der Finanzminister. Die Audienz bei dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten, von Eanitz, dauerte ein Paar Stunden. Der Minister schilderte die Aufhebung des Freistaates als nothwendig für die Ruhe der Großmächte und meinte, Schlesien könne unmöglich viel dabei verlieren, da sich nothwendig der ganze Schleichhandel an der schlesischen Grenze etabliren werde. Die Deputation entgegnete, es schiene ihr dennoch ein Verlust, wenn eine Provinz, statt einer ehrenwerthen, blühenden Handelsverbindung, eine Anweisung auf den betrügerischen, den Gesetzen hohnsprechenden und das Volk entsittlichenden Schleichhandel erhalte.*) Herr v. Eanitz meinte, es käme nur darauf an, so treffliche Fabrikate zu liefern, daß man sie dennoch begehren werde; auf Concurrenz müsse jeder Gewerbtrei- bende gefaßt sein; wenn Jemand ein Gasthaus an der Landstraße erbaue, so könne man nicht hindern, daß sich ihm gegenüber ein anderes etablire, welches seine Kundschaft theile. — Einer der Deputirten bemerkte, der neue Hausbesitzer dürfe nur nicht einen so tiefen Graben vor dem alten Wirthshause ziehen lassen, daß ihn Niemand passiren könne. — Auch dagegen gibt es Mittel, sagte Herr von Eanitz, man würde eine Brücke über den Graben bauen. — „Aber man wird einen so hohen Zoll auf die Brücke legen, daß ihn Niemand bezahlen und Niemand die Brücke passiren wird!" — antwortete Einer und damit hatte die heitere Allegorie ein ernstes Ende. Am folgenden Tage waren die Deputirten- bei dem Prinzen von Preußen, der ihnen sagte, man habe ihnen die Weisung geben wollen, nicht nach Berlin zu kommen, als man von diesem Vorsätze gehört habe, indeß sei man jetzt sehr damit zufrieden, da man von ihnen manche wesentliche Aufschlüsse über die Verhältnisse des schlesischen Handels zu erwarten hoffe. Der König hat die Deputation am 26. November sehr gnädig aufgenommen und ihre Beschwerden angehört und gegründet gefunden. Sie bat, man möge von Oesterreich fordern, daß es die bisherige Handelsfreiheit für Krakau auch ferner aufrecht erhalte, und es nicht in den Bereich seiner Zolllinien ziehe. Die Deputirten setzten auseinander, daß ihnen selbst mit der Einrichtung eines Stapelplatzes in Krakau nicht gedient sei, welche der König vorschlug, und erklärten, welch ein Verlust für Schlesien erwachsen müsse, wenn man nicht die Handelsfreiheit ganz unumschränkt erhalte. Der Monarch gestand, daß die Aufschlüsse über den schlesischen Handel, welche die Deputation ihm im Verlaufe der Audienz geben durfte, ihm eine neue Anschauung der Sachlage eröffneten, und versprach — bedauernd, es nicht früher in dieser Weise gekannt zu haben — mit „allem Ernste" darauf zu dringen, daß die Bitte der Deputation, um Aufrecht- *) Wir verweisen auf den Artikel: Der Schmuggelhandel an der schlesisch- krakauischen Grenze, in unserer heutigen Nummer. D. Red. 398 erhaltung des status <zun, eine Erfüllung erhalte. Der Konig sagte, daß er ein entschiedener Beschützer des Handels sei, daß er einen sehr geschickten Unterhändler, Herrn von Kamptz, an das österreichische (5a- hmet gesendet habe, und daß er „mit allem Ernste" darüber wachen werde, Schlesien vor dem Stocken der Gewerbe zu bewahren, das die Abtretung Krakaus nach sich ziehen könne. An bedauern bleibt es nur, daß in einem Lande, in welchem der Herrscher ernstlich die Wohlfahrt seiner Unterthanen zu fördern wünscht, man nicht daran gedacht hat, vorher die Meinung der Sachverstandigen und der betreffenden Minister einzuziehen. Es hat sich für die Deputirten als Gewißheit herausgestellt, daß außer dem Könige und dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten Niemand von dieser hochwichtigen Sache unterrichtet gewesen ist. Eine vorhergegangene Berathung hätte die Ankunft der Breslauer Deputation und die nachträglichen Maßregeln wahrscheinlich ganz unnöthig gemacht, mit denen es nun doch ein mißlich Ding sein dürfte. Oesterreich ist durch geschlossene Verträge im Besitze von Krakau und „sei im Besitz und Du bist im Rechte/' möchte vielleicht seine Devise sein für diesen Fall. M. A. 2. Musikzwecke der schönen Welt. — Die Klassiker und Meyerbeer. — Die Gesangslehrer und ihr Schicksal. — Cossmann der Cellist. — Bilderverlosung. — ES gehört hier zum guten Ton, alle vierzehn Tage einen Abend im Concertsaale des Schauspielhauses zuzubringen, und auf Rechnung der Firma: Haydn, Mozart, Beethoven und Como. zu klatschen. Das sogenannte kunstsinnige, kunstliebende Publicum ist hier in corvorv vertreten. Besonders sind es die heirathsfähigen Töchter, welche von ihren Vätern, Müttern, resp. Tanten hierher geführt werden, um ihren Sinn für klassische Musik, einen Sinn, der einst für das eheliche Leben einflußreich zu werden verspricht, auszubilden. Wirklich ist es höchst lehrreich für Töchter, wahrzunehmen, welchen Einfluß die schönen Stellen der Klassiker auf die Gemüther angestellter Söhne und begüterter Jünglinge ausüben. Noch findet man hier eine gewisse Klasse von Leuten, die nach beendeter Verdauung eine schmerzliche Leere in ihrem Innern verspüren und auf ihren Plätzen erscheinen, um zu schlafen. In der That wirkt jede Musik auf gewisse Naturen durchaus calmirend, und es klingen in den Ohren dieser Individuen die wunderbarsten Harmonien dieser großen Meister, ebenso monoton, als der eintönige Gesang der Kameeltreiber, womit sie ihre geduldigen Thiere den Tag über durch die Wüste führen. Die bösartigste und zahlreichste Klasse aber ist die der eigentlichen Klassiker. Selbige befinden sich fortwährend in einer gereizten Stimmung und heimlichen Erbitterung. So sitzt ihr ergebenster Berichterstatter neben einem solchen Exemplar, das bei der Aufführung eines neueren Werkes Erstickungszufälle bekommt und den ganzen Abend über mit epileptisch eingekniffenen Daumen und zusammengebissenen Zähnen 399 verharrt. Von diesen Leuten ist in der letzten Svmphoniesoiree bei Meyer- beer's Ouvertüre gezischt worden! ein unerhörtes Beispiel dieser Celevri- tät gegenüber und auch unerhört in der eleganten Versammlung dieses Orts! Anwesend sind und haben sich in einem Concert hören lassen.- Frl. Bochkoltz, vom Conservatorium zu Paris und Herr Cossmann, ein junger Cellist: Erstere soll, wie man sagt, durch die Frau Gräfin Rossi, geb. Sonntag, nach Berlin berufen sein, um hier Gesangsunterricht, die Stunde zu zwei Thalern, zu geben. Wenn Fräulein Bochkoltz hier Mode werden sollte, und eine Protection hoher Cirkel pflegt darauf einwirken zu können, so ist ihr Glück gemacht, und unsere Gesangslehrer dürsten die Concurrenz nur zu bald empfinden. Es gehört übrigens nicht viel dazu, um mehr zu leisten, als die hiesigen Gesangslehrer. Seit vielen Jahren geht jedes mit einem hoffnungsvollen Organe beglückte Individuum, dem es darum zu thun ist, singen zu lernen, von Berlin fort, und so haben die hiesigen Gesangslehrer, mit Ausnahme derer, welche den Chor für die Oper „einpauken," nichts Anderes zu thun, als in den Häusern herumzulaufen und unsern Dilettantinnen, dieses gemüthliche und unversorgte Geschlecht, zu festen Preisen, die Stunde ein bis zwei Thaler, singen zu lassen. Da ist Rellstab, guter Vater und schlechter Musikant, Teschner, der mit einem Thermometer den Wärmegrad der Rachenhöhle untersucht, Jähns, der nur Compositionen von Carl Maria von Weber und Jähns singen läßt, Stümer, emeri- tirter Tenor und Thiesen, harmloser Mensch und letzter Sopranist. Mit diesen Herren muß nun Fräulein Bochkoltz in Concurrenz treten. Was man lernen kann, hat sie gelernt; damit ist ihr Gebiet und seine Grenzen charakteristrt. Seele spiegelt sich in ihrem Gesänge nicht wieder, aber eine tüchtige Fertigkeit und eine gute Schule. — Der Cellist Cossmann gehört der neueren französischen Virtuosität an. Sehr dünn bezogenes Instrument, viel tremolo, mehr Violine als Cello, aber elegante Bogenführung, äußerste Delicatesse und Romantik des Vertrages. In diesen Tagen fand die Verlosung der kleinen, auf der Kunstausstellung gekauften Bilderchen statt. Man ist im Publicum höchst un. zufrieden mit der Unbedeutendheit der Gewinne, noch mehr aber mit den sehr hohen Preisen, für die einige derselben angekauft worden. Nicht zu billigen ist, daß man, statt sich an die vorhandenen, im Katalog verzeichneten Werke zu halten, noch schnell nachträglich Bilder anfertigen ließ, um sie als angekauft zur Verlosung zu bringen. Z. Z. III. Aus Cöln. Die Scandalftcunde und die Oeffentlichkeit. — Nuancen eines Assisenpublicums. — Enttäuschungen. — Borzüge und Nachtheile des rheinischen Verfahrens. —. Venedey's neuestes Buch. — DronlVö Verhaftung. Erklären Sie mir das große Räthsel, warum die Masse so unempfindlich bleibt bei Thatsachen, welche die Masse betreffen und so erregt 40V sich beweist, wo es das Privatleben eines Einzelnen zu beurtheilen hat, woher die Stumpfheit gegen die Bewegung der großen Maschine, in der ein Jeder selbst ein Stift, eine Feder ist, und woher im Gegentheil die Spannung, wo es Einblicke in ein Particularleben gilt, bei der die Meisten unbetheiligte Zuschauer und Gaffer sind? Es hat sich in unserer Stadt in letzterer Zeit manch politisch befremdliches Ereigniß gezeigt, wohl werth, die Aufmerksamkeit Aller auf sich zu ziehen, sogar in der Wohnung unbescholtener Einwohner hat die Behörde geglaubt, Hausuntersuchungen machen zu müssen, und doch ist dies Alles in den Hintergrund getreten vor der einen Geschichte des Hatzfeld-Oppenheimischen Prozesses? Ob hier ein Liebeshandel, ob ein gemeineres Interesse zu Grunde liegt, ob die Meyenvorff, ob die Gräfin den Vorzug (!) verdient, ob der Graf oder der Angeklagte mehr compromittirt ist, und fünfzig Fragen dieser Art spannten die öffentliche Neugier höher als Alles, was im Gemeindc- und Staatsleben vorging. Allerdings traten hier noch besondere piquante Motive hinzu, um die Neugier zur Leidenschaft zu stacheln, die Abneigung gegen adeligen Hochmuth hoffte hier eine Genugthuung zu erleben durch Entwickelung von Familienscandalen, bei welchen jeder Wappenlose freudig ausrufen kann: Gott sei Dank, im Bürgerstande sind solche Thatsachen unerhört; jene Parthei, die bei der Gemeindewahl ein Panier mit der Aufschrift: Keinen Juden, trägt, hoffte ihrerseits durch die Verur- theilung und Herabsetzung einiger Sprößlinge abrahamitischen Stammes — gleichviel, ob die Taufe ihre Häupter benetzte oder nicht—ihr frommes, christliches Gemüth zu erquicken; die lebenseifrige Männerjugend hoffte neue Erfahrungen in piquanten Liebesabentheuern zu erhalten und die Frauen — mein Gott, die Frauen, von dem jungen Lockenköpfchen, das sich noch erröthend senkt bei dem Worte Liebe, bis zu der alten Betschwester, die verknöcherte Sünden durch geistliche Lieder zu erweichen sucht. Alle waren Parthei für, dagegen, dagegen und für! Das war ein heißer Tag, der 24. November, obschon Vielen ihre Erwartungen bedeutend abgekühlt wurden. Zuerst wurden die meisten Neugierigen um das Schauspiel geprellt. Der Eingang zu dem Raume, der gewöhnlich bei unserem Schwurgerichte dem ganzen Publicum offen steht, war gesperrt, nur eine Minute vor der Eröffnung der Sitzung hatte man die Hörer eingelassen, aber alsobald, wie diese eröffnet wurden, pflanzten sich Soldaten auf und verwehrten den Zutritt. Dagegen hatte die Aristokratie aus der Umgegend Platz gefunden auf der Tribüne, wo die Richter saßen, und es wurden hierzu den Begünstigten eigens Karten zugestellt. War eS vielleicht Ironie? Wollte man grade dem Adel das Schauspiel zuerst gönnen, in welchem die Sittenzustande des Standes dem großen Haufen entschleiert werden? Und doch waren auch in dieser Beziehung die Erwartenden betrogen. Von den Familienverhältnissen der Hatzfeld kamen nur sehr mäßige Details zur Sprache. Der Angeklagte vermied jede Hinüberspielung auf dieses Thema in soweit es die Gräfin gravi- ren konnte, auf das Sorgfältigste. Der Staatsanwalt schweifte gleichfalls sehr discret über den Ruf der Gräfin mit einer halben Andeutung weg. Nur auf den Grafen H. sielen von Seiten der Vertheidigung el- 401 nige scharfe Lichter. Die dritte Erwartung, die nicht eintraf, war das Strafurtel gegen den Angeklagten Dr. Oppenheim, der, wie Sie aus den Tagesblättern bereits erfahren haben, ganzlich frei gesprochen und auf freien Fuß gesetzt worden ist. Dieses ist die zweite Hälfte dieser Geschichte, die ebenso viel Aufsehen macht, als die erste. Die Feinde der Schwurgerichte in Preußen werden nicht verfehlen, diesen neuesten Fall unserer rheinischen Gerichtsbarkeit nach ihrer Weise auszubeuten. Denn in der That ist der schlichte Menschenverstand gegen diese vollständige Freisprechung. Ist's auch dem Angeklagten, wie sich von selbst versteht, nicht um das Geld, sondern nur um die Papiere zu thun gewesen, ist auch die Schuld durch viele mildernde Umstände zu erleichtern — eine Schuld, ein bedeutendes Vergehen, bleibt es immer, und es würde mit der Sicherheit der Gesellschaft schlecht stehen, wenn man die Entwertung von Dokumenten und wäre es auch nur ,,zur Einsicht", ganz gemüthlich hingehen ließe. Die sechs Geschworenen, die ihr Nichtschuldig aussprachen (die andern sechs erklärten ihn für schuldig), wurden durch die mildernden Umstände zu ihrer Nachsicht bestimmt. In der That zeigten die vorgelesenen Briefe an die Gräfin, so wie die ganze Haltung Oppenheims in Bezug auf diese Dame, daß hier nicht ein bloßer Leichtsinn, sondern ein Devouement, eine Selbstaufopferung, vorherrschend war. Der leidenschaftliche Ton jener zerrissenen und halb zusammengeflickten Briefe, ließ noch heftigere Seelenmotive errathen, und somit war eigentlich der Spruch der Geschwornen ein Protest gegen den Absolutismus und die Unvollkommenheit des Gesetzes, welches Alles in einen Sack, in eine Kategorie steckt und die psychologischen Nuancen der Einzelnfälle unberücksichtigt läßt. Dies ist grade ein Vorzug der Geschwornengerichte, daß der absolut wissenschaftliche Gedanke, der tyrannische Wortlaut, den Verirrten nicht in gleicher Kategorie mit dem Bösewicht, die radclnswür- dige Einzelnthat nicht mit einer organischen Verderbtheit des ganzen Menschen in eine Linie bringt. Daß der Ausspruch bisweilen zu mild ausfällt, ist kein Unglück, da bei der Oeffentlichkeit des Verfahrens der moralische Makel, der trotz der Freisprechung immer noch auf dem Angeklagten haften bleibt, gleichfalls als «Strafe anzurechnen ist, wie man bei gewissen Militairurtheilen die Todesangst als Strafe in Rechnung bringt. Im vorliegenden Falle ist der Betheiligte durch die wenig beneidenswerthe Celebrität, die er errungen, durch den Kummer, den er seinen Angehörigen bereitete, durch die Enthebung von seinem Amte und durch hundert andere unaussprechliche Nüancen genug gestraft worden. Dennoch ist die gänzliche Freisprechung darum zu bedauern, weil sie den ärmern Gesellschaftsklassen ein vages Gefühl von Ungleichheit vor dem Gesetz einflößt, indem der Unbemittelte, der Proletarier sich sagen muß: Wäre ich es gewesen, der ich nicht nachweisen gekonnt hätte, daß es nicht dem Gelde in der Chatoulle galt, der ich nicht jener glänzenden Welt angehöre, in welcher das Wort „Ritterlichkeit" ein glänzender Mantel zur Deckung fauler Zustände ist, hätte ich Gevatter Schuster und Handschuhmacher Documente entwendet, welche meine Tochter um ihr Bischen Habe, meine Schwester um ihr Erbtheil zu bringen drohten, mich, den unritterlichen, Grcnzl>„er>. IV. 184«. 54 402 ledernen und vertrockneten armen Teufel hatten sie in's Loch gesteckt. Dies ist die Ursache, weshalb wir diesen Ausgang des Prozesses nicht ganz wünschten. Dem Dr. Oppenheim gönnen wir's herzlich, daß er so davon gekommen ist, er hat persönlich genug Strafe erlitten; aber um der Idee des Rechts willen, um des Zutrauens zur Gleichheit der Justiz für alle Menschenrassen hatten wir den Ausgang um einen Grad scharfer gewünscht. Glücklicherweise führt das Uebel auch sein Heilmittel gleich mit sich und die Oeffentlichkeit der Verhandlung gibt sogleich Aufschluß über die Motive. Ware bei heimlichem Verfahren der Millionärssohn freigesprochen worden, kein Gott hätte die Richter vor dem Verdacht der Bestechlichkeit gerettet. Aber zwölf beeidete achtbare Bürger, die vor dem Beginn der Verhandlung gewählt werden, lassen die Idee der Bestechlichkeit auch bei den mißtrauischsten Gemüthern nicht aufkommen. Von Benedei) ist eine neue Schrift erschienen: „Vierzehn Tage Heimathluft," worin er an den vorjährigen Aufenthalt in seiner Vaterstadt Eöln eine Reihe politischer Reflexionen knüpft, ganz in, dem Sinne seiner bekannten l'^Correspondenzen, die er seit einem Jahre von Paris aus für die Kölnische Zeitung schreibt, voll warmer Vaterlandsliebe, frisch, lebendig und großentheils auch praktisch. Das Buch ist 25 Bogen stark und ist somit censurfrei, scheint jedoch nichtsdestoweniger der Censur vorgelegt worden zu sein, denn von dem Kapitel: „Die Presse" findet sich nichts als der Schmuztitel vor, alles Uebrige fehlt — offenbar als Opfer des Censors. — — So eben hört man, daß Di-. Dronte, der sich hier einige Tage bei einem Bekannten aufgehalten haben sott, auf feiner Rückreise, in Koblenz, wo er unvorsichtiger Weise in einem öffentlichen Weinhause sich sehen ließ, verhaftet worden sei. Hoffentlich wird die ganze Geschichte darauf hinauslaufen, daß man ihn an die preußische Grenze führen wird, als einen aus Preußen Ausgewiesenen, der sich doch auf preußischem Boden finden ließ. Was man über einen Prozeß spricht, der ihm in Folge seines Buches über Berlin wegen Majestätsbeleidigung angehängt werden soll, ist wohl unglaublich, da Dronte, nach dem Ausspruch der Regierung selbst, kein Preuße ist. Es scheint, daß in der ostensiblen Verhaftung Dronkcs eine beabsichtigte Drohung gegen Itzstein liegt, den man von seinem laut ausgesprochenen Vorhaben, nach Koblenz zu reisen, auf andere Gedanken bringen will, indem man ihm ein Beispiel vorhält. Die Verhaftung Jtzsteins in gleichem Falle würde allerdings ein Ereignis) sein, das die Regierung sich gern ersparen möchte... und sie hat wohl Ursache dazu! — IV. Der Schleichhandel an der Krakauer Grenze. Aus Oesterreich. Von der großen Krakauer Frage, deren Beantwortung Seitens der zwei constitutionellen Mächte ganz Europa mit Spannung erwartet, ist 4M mittlerweile noch ein kleines Fragezeichen zwischen Oesterreich und Preußen zu schlichten übrig geblieben, und dies ist die Handelsfrage. Bekanntlich war das Krakauer Gebiet bisher ein großes Schmugglernest. Won Preußen kamen Jahr aus, Jahr ein ungeheuere Waarenballen, die ihr Depot in Krakau fanden, Waarenmassen, ausreichend genug, um ein großes ausgedehntes Land damit zu verproviantiren. Wohin gingen aber diese Waaren? Hat das kleine Krakau sie etwa consumirt? Die Antwort ist einfach: sie wurden durch das Einverständnis; von Juden, Edelleuten, Bauern und Grcnzjägern zum größten Theile über die österreichische Grenze geschmuggelt, und zu kleinern Theilen nach Russisch-Polen. Die eingeschmuggelten Waaren waren zweierlei Art. Zuerst waren es Zoll- vereinserzeugnisse, unter denen namentlich eine große Zahl schlesische Erzeugnisse sich befanden, deren Fabrikanten mit Hinblick auf diesen Schmuggel ihre Fabriken deshalb in solcher Nahe errichtet hatten; zur andern Hälfte waren es englische und französische Waaren, die als Transit die Zollvcreinsstaaten passirt hatten. Von diesen war Preußen selbst bedroht, indem ein Zurückschmuggeln ins preußische Gebiet von Krakau aus vielfach versucht wurde und bisweilen auch gelang. Doch hatte Preußen für sich selbst die strengsten Vorsichtsmaßregeln getroffen. Die Transitgegenstande gingen plombier bis zum letzten preußischen Grcnzamt Neu-Berunn. Hier wurde die Plombe abgeschnitten, und eine Eskorte von Mautbeamten begleitete die Waaren bis Ehelcmnik, dem nächsten Orte Krakauschen Gebiets. So siel denn die Hauptlast dieses schändlichen Verkehrs zum unberechenbaren Nachtheil Oesterreichs aus, das nur durch eine Ausdehnung seiner Aoll- linien bis zur preußischen Grenze sich vor diesem heillosen Schleichhandel schützen kann. Durch eine Uebereinkunft der drei Machte wurden bei der Verhandlung über Krakau nur die allernothwendigsten Staatsmänner der drei Cabinette ins Geheimniß gezogen und es scheint, daß man in Preußen so weit ging, nicht einmal sämmtliche Minister davon in Kenntniß zu setzen. So kommt es nun, daß Preußen jetzt nachträglich in seinem Special- interesse für die Handelsfreiheit des bisherigen Freistaats Zugeständnisse von Oesterreich verlangt, die dieses unmöglich gewähren kann. Wer den Krebsschaden kennt, an dem unser, in jüngster Zeit nur um ein Geringes verbessertes Grenzwachensystem leidet, der wird es natürlich finden, daß Oesterreich alles Mögliche aufbieten muß, um dem Uebel, welches eine der wichtigsten Quellen im Budget eines jeden Staates, den Grenzzoll, so ungeheuer schmälert, zu heben. Wenn man in Schlesien plötzlich behauptet, es seien jährlich für vier Millionen Thaler Waaren nach Krakau von dort allein versendet worden, so ist dies (bei aller Uebertreibung, die in dieser Angabe liegen mag) grade ein Grund mehr, daß Oesterreich die Aufhebung des Krakauer Freihandels festhält. Denn noch einmal fragen wir: wo sind diese vier Millionen Waarenwerthe consumirt worden, wenn nicht wenigstens zur Hälfte in Oesterreich? Höchst sonderbar wäre die An- muthung, daß ein Staat sich die Adern aufreißen soll, damit sein Nachbar nach wie vor von seinem Blute sich nähren kann. Wenn man in Schlesien fragt: Was soll aus einem Theil unserer Fabriken werden? so 54* 404 haben wir wohl auch das Recht zu fragen, was aus den unsn'gen werden soll. Schlimm genug, daß sie durch so viele Jahre durch einen so enormen Schleichhandel in ihrem ehrlichen und kämpfeschweren Erwerb geschmälert und erdrückt worden sind. Haben die schlesischen Fabrikanten wirklich für vier Millionen Thaler Waaren „nach Krakau" (!) geliefert, um so glücklicher für sie, daß sie diesen Vortheil so lange genossen. Auch in Oesterreich gibt es arme Weber und Spinner, die ihre abgemagerten Hände Hülfe rufend und Arbeit fordernd ausstrecken. Auch Oesterreich muß daran liegen, daß seine Grenzbevölkerung durch das infame Geschäft des Schmuggels nicht noch tiefer demoralisirt werde. Würde ein Anschluß an den Zollverein im Ganzen und Großen für die österreichische Monarchie bereits reif sein, wir waren die ersten, um ihn zu unterstützen. Gern würden wir die bedeutenden Nachtheile, die der österreichischen Industrie im Anfange daraus erwüchsen, tragen, um den Bund mit unsern Brüdern im großen Vaterlande zu befestigen und um aus der verrosteten Jsolirung herauszukommen, welche die Niederdrückung der österreichischen Entwicklung zur Folge hat. Aber zu Gunsten einer auf unrechtmäßige Ausfuhrmittel gegründeten Specialindustrie einiger Fabrikanten uns zu opfern und ein gefährliches Loch offen zu lassen, das die natürlichste Pflicht der Selbsterhaltung zu schließen gebietet — eine solche Anmuthung kann kein billig Denkender uns machen. Die zweideutige Erwerbung Krakaus ist von uns Oesterreichern wahrlich nicht erwünscht worden, und wir unsers Theils hätten bereitwillig auch noch ferner auf eine Gebiets - „Bereicherung" verzichtet, welches die Steuerpflichtigen der Gesammtmonarchie voraussichtlich noch schwere Opfer kosten wird. Auch ist es sogar von der englischen und französischen Presse eingestanden worden, daß das Gelüste nach einer Tcrritorialer- weiterung von einigen armseligen Quadrat-Meilen Oesterreich sicherlich nicht zu diesem folgenschweren Schritte getrieben hat, den es schon jetzt und auf viele Jahre hinaus mit so schweren Opfern des Staatsschatzes bezahlen muß, und der es, der Himmel weiß in welche Conflicte noch bringen wird. Und zu diefem Allen fehlte es noch, daß man die Anforderung an uns stellte, Krakau soll zu Gunsten des Schmuggels einen Staat im Staate bilden und Oesterreich soll zu der kostspieligen Besatzung, die es von nun an da unterhalten muß, von der seine zwei Alliirten doch zwei Drittheile der Vortheile für ihre eigene Sache genießen, noch eine ausgedehnte und dreifache Aollwache unterhalten, um sich gegen einen Theil seines eigenen Gebietes zu schützen, welches es zum Stapelplatz fremder Industrie hergeben soll, um den Herren Schmugglern ein Asyl zu bereiten, wo sie ihre Feldlager halten und ihre nächtlichen Züge präpariren können. Wahrlich eine sonderbare Anmuthung! Und würde man diese wenigstens noch im Interesse der einverleibten Stadt erheben, wir würden aus Schonung für sie, und um den Verlust ihrer Unabhängigkeit ihr minder fühlbar zu machen, ihr gern ein Augestandniß wie an Brody gönnen. Aber Krakau selbst verliert für seinen Handel durchaus nichts, wie Jedermann weiß, da ihm die Einrichtung von Transtto-Lagern gestattet wird, 405 während es anderseits durch die Aufhebung der Zolllim'e nach Oesterreich zu, unendlich gewinnt. Eins aber darf man preußischer Seits nicht übersehen. Auch wenn Krakau in seiner bisherigen privilegirten Handelsstellung geblieben wäre, so würde doch der bisherige Schleichhandel höchst bedeutend geschmälert worden sein, eben weil man jetzt die großen, alle Vermuthung übersteigenden Summen officiell kennen lernt, welche auf dieser Seite der Schmuggel der englischen, französischen und Zollvereinsstaaren betragen, wird Oesterreich Alles aufbieten müssen, um durch strenge Wachsamkeit diesen Schleichhandel zu sperren. Die Waarenballen würden also auf jeden Fall in viel geringerer Zahl nach dem Krakauischen Fceihandelsgcbiet crpedirt werden, da sie sonst Gefahr liefen, dort Jahre lang liegen zu bleiben, ehe sie den Eintritt ins österreichische Gebiet durch tausend Listen und neue Korruption erzwingen. Was die Einfuhr nach Russisch-Polen betrifft, so wird ihr durch die geringen Durchgangszölle, die tractatmäßig auf dem Krakauer Geriet auch in Zukunft bestehen, kein Eintrag gethan, aber freilich ist hiermit den Schmugglern wenig gedient, die es im Ganzen auf Oesterreich abgesehen haben und denen Rußland blos Nebensache ist.*) Die ganze Frage ist, außer der Nothwendigkeit der Selbsterhaltung, auch noch eine Moralitätssache, und wir trauen Preußen und seinem Handelsstande zu viel Billigkeitsgefühl zu, um auf Zumuthungen zu bestehen, dessen materielle und moralische Consequenzen auf der Hand liegen. Sollten aber diese Anforderungen doch fortgesetzt werden, so wird unsere Regierung hoffentlich wissen, was sie dem österreichischen Gewerbstande schuldig ist und wir erwarten, daß sie mit Entschiedenheit die Interessen desselben wahren wird. ^ 't' ^ V. Aus Wie«. Das „Königreich Polen". — Ein Courier. — Zur Charakteristik Englands und Frankreichs. — Kübcr und die Bankers. — Die Töchter der Großfürstin Helene. — Niobe. — Spanischer Pomp der Wiener Hofzeitung. — Zopf und Schwert- — Dcinhardstein's neueste Heldenthat. — Bauernfeld's „Großjährig". ? Nicht geringes Aufsehen macht hier die plötzliche Ankunft des russischen Thronfolgers in dem Momente, wo das Krakauer Ereigniß die Ge- *) Ein Artikel in der „Weser-Zeitung" vom I. December, der zu Gunsten des Freihandels spricht, gesteht selber zu: Der Schmuggel fand seinen besten Absatz in Galizien, wo er durch die Corruption der Zollbeamten in gewohnter Weise befördert wurde. Nach Rußland schreckten, wenigstens theilweise, die barbarischen Strafen ab, womit die betroffenen Contrebandiers belegt werden." — Also weil die österreichischen Gesetze menschlicher sind, stellt man an Oesterreich die Forderung, es solle still halten und sich freundnachbarlichst bemausen lassen, weil eS die Herren Schmuggler auf dieser Seite am bequemsten finden. 4W müther in Spannung erhält und wo in gewissen Kreisen das Gerücht laut wird, Rußland werde' mit dem neuen Jahre das „Königreich Polen" auch dem. Namen nach verschwinden machen und es als bloße Provinz (Gouvernement) vollständig mit den übrigen Staatstheilen verschmelzen. Der russische Thronfolger dürfte hier noch wahrend seiner Anwesenheit die Protestation Lord Palmerston's vernehmen, die Graf Dietrichstein, der österreichische Gesandte in London, so ziemlich im Boraus geschildert hat. Ein österreichischer CabinetScourier/ der die Reise von hier nach Paris, von da nach London und wieder zurück in II Tagen gemacht hat, ist Anfangs dieser Woche eingetroffen und soll die Gewißheit gebracht haben, daß von Frankreich nichts zu besorgen sei; von England hingegen, wenn auch keine krieqerische, doch eine sehr bittere und für die Zu^ kunst wichtige Protestation. England setzt sich auf den Fuß einer langen und schwierigen Verhandlung, durch die es endlich nicht etwa die Herstellung Krakaus oder Polens, sondern ein bedeutendes Augestandniß für sich in irgend einer wichtigen Frage erzielen will. In Frankreich ist die Protestation eine Fanfaronade, die Nation erinnert sich noch aus alten Zeiten, daß sie die Vorkämpferin der Völkerfreiheit war und werden wollte, sie erhebt noch immer das alte Geschrei, die alten Stichworte klingen und ertönen, aber die Schwerter bleiben in der Scheide, weil sie mit zu wichtigen Ketten darin gefesselt sind, weil mit Ausnahme des kleinen Haufens der Napoleonisten und Gloire-Anbeter, Alles den Frieden wünscht und die Entwickelung der hunderttausend ausgesponnenen Eivilisations - und Wohlstandsfaden. In England dagegen ist die Protestation ein Ergebniß des Handelsgeistes. Die alte Spinne in ihrem festen Eiland kümmert sich nicht um den Aufschwung und Untergang von Nationen, wenn die Interessen ihrer eignen Macht und Handelsgröße nicht dabei berührt werden. Um Principien kämpft England nie. Ist eins verletzt, so sucht sie in dieser Verletzung selbst ihren Vortheil zu fischen, und wir zweifeln nicht, daß sie ihn in der Krakauer Frage all- mälig finden wird. Die unglücklichen Polen können von dieser Seite nur eine scheinbare Genugthuung erwarten, eine thatsächliche haben sie von England nicht zu hoffen. Dies weiß man hier so wohl, daß man nirgends auch die leiseste Vorsichtsmaßregel oder Rüstungen bemerken kann, die auch nur im Entferntesten auf einen Kriegsfall hindeuten könnten. In den commerciellen Kreisen ward in den letzten Tagen die Krakauer Frage sogar kaum beachtet, was allerdings wenig bedeutet, da die politische Bildung unserer Bankers und Industriellen in solchen Kinderschuhen geht, daß sie kaum auf einen Monat hinaus ihre Berechnungen macht und bei der mindesten Begebenheit den Kopf entweder in sanguinischer Hoffnung oder in hypochondrischer Furcht verliert. Die wohlthätige Maßregel, welche Baron Kübel durch die Errichtung einer Ereditcasse für Eisenbahnactionare ergrissen hat, ist für diese Kreise die Sonne des Tages, um die sich alle ihre Pläne drehen. In der That, zu keiner Zeit war diese Maßregel nöthiger als jetzt und wir können uns des Gedankens nicht erwehren, daß sie mit Hinsicht auf das Krakauer Ereigniß in's Leben trat, denn was wäre aus dem Credit geworden, wenn zu dem ohnehin 407 gesunkenen Vertrauen der Eapitalisten auch noch die Kriegsfurcht getreten wäre? Durch die höchst wohlthatige Errichtung der Credircasse hat der Hofkammer-Präsident einen materiellen und einen moralischen Erfolg erzielt. Materiell durch die effective Garantie des ActienwerthS, moralisch, weil die Regierung durch diesen Act das Vertrauen beurkundete, welches sie zu dem ungetrübten Fortbestand des Friedens hat und dieses Vertrauen dadurch auch in den weitesten Kreisen befestigte. — Uebrigens ist das Gerücht, das allgemein hier herrschte, daß mit der Einverleibung Krakaus auch Gebietsabtretungen an Rußland und Preußen gemacht worden seien, officiell widerlegt worden. Diese Widerlegung schien um so nothwendig gar, als dadurch die Grundidee dargethan wird, daß die Einverleibung Krakaus österreichischer Seits nicht als ein Gewinn, sondern als eine Last betrachtet wird, und daß die andern zwei Mächte dies anerkannt haben. Für eine Gebictsbereicherung Oesterreichs hatten Nußland und Preußen ein Aequivalent beansprucht, daß sie dies nicht thun konnten, zeigt eben, welch einen schlechten Handel Oesterreich anerkannter Weife bei dieser Bereicherung gemacht hat. Kommen wir auf den russischen Thronfolger zurück, der gleich nach seiner Ankunft einen Besuch bei der tiefgebeugten Großfürstin Helene machte, die von dem schmerzlichen Verlust, den sie erlitten, sich noch nicht erholen kann und in Italien die Befestigung der eignen Gesundheit suchen will. Dies ist nun die zweite Tochter, die dieser wirklich ausgezeichneten Frau innerhalb zwei Jahren dahinstirbt; die erste (vermählt an den Herzog von Nassau) wie die zweite prangten in vollem Glanz der Jugend und der Schönheit. Was haben diese unschuldigen Blüthen verbrochen, daß an ihnen die Schuld der Vorfahren gerächt wird? Was haben diese lieblichen Wesen für einen Antheil an den Seufzern, die über die Schlachtfelder Polens hinweg und aus dem Innern Sibiriens zittern? An diesen schuldlosen Häuptern hat die Nemesis keinen Antheil! Bei Gelegenheit der Beerdigung dieser jungen Prinzessin, der auf einen Befehl des Kaisers die Ehren einer Erzherzogin erwiesen wurden, hat sich der spanische Styl unserer officiellen Zeitung wieder in jenem eklen Phrasenservilismus gezeigt, von dem man nicht weiß, soll man darüber lachen oder sott man sich ärgern. Gewiß ist's, daß derlei Phrasen in ihrer Gott sei Dank! längst überlebten Plumpheit und Geschmacklosigkeit die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen, die sie beabsichtigen. Wer muß selbst bei dem innigsten Mitleid nicht lachen, wenn die Wiener Hofzeitung meldet: „Gestern Abend um sieben Uhr wurde die höchste Leiche Ihrer kaif. Höh. der Frau Großfürstin Marie" -c., also die höchste Leiche Ihrer Hoheit! und wo ist die andere? Und ist ein armes Kind, das in die Gruft gelegt wird zu andern armen Entseelten, auch da noch höchst? Traurig genug, daß man den Lebenden ein Prädicat beilegt, das sie mit Gott in eine Linie stellt; die Seele, die Stellung eines Menschen kann hoch sein — aber sein Leichnam ist wie jeder andere, und die Religiosität verlangt hier sogar Demuth. Ferner heißt es: „Die Grenadier-Division die den höchsten Namen Sr. kais. Höh. des Herrn Großfürsten trägt" u- s. w. Da haben wir es! In einer Kirche wird der höchste Name 408 Gottes verehrt; in einer Grenadier-Division der höchste Name — eines Großfürsten. Großfürst ----- Gott! Und die Protestanten nennt man Ketzer! Ferner heißt es in dem erwähnten Bericht: „Die Grenadiere der Thorwache präsentirten das Gewehr unter Rührung — des Spiels!" Will die Wiener Hofzeitung etwa ironisch sein? Das könnte ihr theuer zu stehen kommen! Daß man bei uns nicht einsehen will, daß Einfachheit die dringendste Nothwendigkeit in allen unsern Verhältnissen sei, daß der altspanische Styl, der Zopf, in den officiellen Ackerstücken wie in d n praktischen Fragen der Administration, überall die schlechteste Wirkung macht. Würde man doch lieber die Censucscheere an unsere Zöpfe legen, hier wollten wir sie segnen! Unser Burgtheaterpublicum hat dieser Tage selbst das Censuramt an einem unserer Censoren ausgeübt und hat ein neues Stück von Herrn Deinhardstein lobesam: „Verwirrungen der Liebe" ausgezischt. Die Indignation gegen dieses Machwerk war so groß, daß nicht einmal die, Gegenwart des Hofes den Ausbruch derselben dämmen konnte. Von der Mitte des dritten Actes angefangen bis zum Schlüsse des vierten Actes hörte das Publicum nicht auf, das Stück zu verhöhnen und auszuzischen. Man glaubte sich gar nicht mehr mal,denn der glänzenden Versammlung unsers ersten Theaters, denn diese Zeichen des tiefsten Mißfallens gingen nicht von den Gallerien aus, fondern vom' Parterre und den Logen. — Das Stück selbst ist aber auch das schlechteste und geistloseste Product, mit dem man je die Breter unsers einst so tresslichen Burgtheaters entwürdigt hat. Ware es auf einer Vorstadtbühne gegeben worden, man hätte es nicht ausspielen lassen. — Dagegen macht Bauernfeld's „Großjährig" noch immer volle Hauser. Superkluge Aesthetiker und tiefgelahrte Kritiker haben diesem Srücke den Mangel an eigentlichem dramatischen Kern vorwerfen wollen. Ich glaube, Baucrnfeld gibt dieses selber mit Freuden zu. War es ihm diesmal doch in der That nicht um den Inhalt seines Stückes zu thun, sondern nur um den Ort, wo die satyrischen Pointen desselben gesprochen werden. Der politischeZweck hat ihn vor Allem geleitet, die ästhetische Form war ihm nur Mittel und darum Nebensache. Seit er seinen „deutschen Krieger" hier trotz aller Censur durchgesetzt und zünden sah, wurde ihm die Ueberzeugung, daß das lebende Wort hier mehr Wirkung, Gewalt und Freiheit hat als das geschriebene und darin hat er sich nicht getauscht. Zur Charakteristik des Stückes und unserer Zustände gehört es, daß die hiesige politische Zeitung, die über alle neuen Stücke Recensionen bringt, über die Bauernfeld'schen zwei Lustspiele keine bringen konnte oder — durfte. Rainer. ______, Druckfehler. In unserm letzten Hefte, in dem Aufsätze: „Oesterreichs Stellung in der Krakauer Frage" sind die Zahlen 1809, 1814 und 1819 von dem Setzer falsch gestellt worden; in dem Satze: „Die letzte Eintheilung Polens im Jahre 1819" ist zu lesen: I8l4; in dem Satze: „Des bis 1814 unter seiner Herrschaft gestandenen Krakaus" ist zu lesen: „1809". Verlag von Fr. Ludw. Heri'la,. — Redacteur I. KltVlNlda. Druce von Friedrich Andrä.