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999
1000
The Project Gutenberg EBook of Nach Amerika! Zweiter Band. by Friedrich
Gerstäcker
This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no
restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under
the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or
online at http://www.gutenberg.org/license
Title: Nach Amerika! Zweiter Band.
Author: Friedrich Gerstäcker
Release Date: March 30, 2007 [Ebook #20944]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACH AMERIKA! ZWEITER BAND.***
Nach Amerika!
Ein Volksbuch
Zweiter Band
von
Friedrich Gerstäcker.
Illustrirt von Carl Reinhardt.
Leipzig, Hermann Costenoble, Verlagsbuchhandlung
Berlin, Rudolph Gaertner, Amelang’sche Sort-Buchhandlung
1855
INHALT DES ERSTEN BANDES.
Die Seestadt.
Der Weserkahn.
Das Schiff.
In See.
Die Passagiere.
Leben an Bord.
Leben an Bord.
Die Entdeckung.
Land.
Capitel 1.
DIE SEESTADT.
Am 29. August Abends zehn Uhr rasselten zwei Droschken durch die engen,
noch ziemlich belebten Straßen Bremens, und hielten, dicht hintereinander,
vor dem offenen Thorweg des »Hannoverschen Hauses« aus dem ein paar
geschäftige Kellner sprangen, die Neuangekommenen in Empfang zu nehmen.
»Um wie viel Uhr fährt morgen früh die Haidschnucke ab?« frug ein
ältlicher Herr, der in einen weiten Mantel gewickelt hastig aus dem ersten
Wagen stieg, indeß aus dem anderen ein paar Damenhüte schauten, als ob sie
noch unschlüssig wären hier auszusteigen oder weiter zu fahren.
»Haidschnucke?« sagte der Oberkellner etwas verblüfft den Fremden und dann
den ebenfalls herzugekommenen Hausknecht anschauend — »Haidschnucke?«
»Weet ick nich« erwiederte dieser, kurz angebunden, und fing an, ohne
weiter zu fragen die verschiedenen, vorn auf dem Bock aufgehäuften Koffer
und Hutschachteln von diesem herunter zu ziehen.
»Das Schiff Haidschnucke, Capitain Siebelt, nach New-Orleans bestimmt,«
erklärte der Fremde — ein alter Bekannter von uns, Professor Lobenstein —
dem Kellner indeß; »der Abgang war auf morgen früh bestimmt, und ich
wollte schon gestern hier sein, bin aber um einen Tag aufgehalten worden.«
»Ach Sie meinen ein Seeschiff,« sagte der Kellner beruhigend, »da brauchen
Sie keine Angst zu haben; die gehen selten so pünktlich — befehlen Sie
zwei oder drei Zimmer?«
»Ja selten so pünktlich,« wiederholte der Professor ungeduldig — »darauf
kann ich mich nicht einlassen — He! — Sie da — wo laufen Sie denn mit den
Sachen hin? lassen Sie mir das erst Alles einmal auf der Hausflur stehn,
bis Sie weiteren Bescheid bekommen. Wo wohnt denn wohl der Rheder der
Haidschnucke?«
»Der Rheder der Haidschnucke?« wandte sich der Oberkellner wieder fragend
an den Hausknecht — »wer hat denn die Haidschnucke eigentlich?«
»Weet ick nich« sagte der Hausknecht wieder wie vorher kurz angebunden.
»Ferdinand Hessburg« kam ihm der Professor hierbei zu Hülfe, »die Firma
heißt, glaub’ ich, Hessburg und Sohn.«
»Ach ich weiß schon« erwiederte der zweite Kellner jetzt — das Geschäft
ist in der Seemannsstraße, aber Hessburgs wohnen am Wall.«
»Kann ich Jemand bekommen der mich dorthin begleitet?« frug der Professor.
»Es ist zehn Uhr vorbei« sagte der zweite Kellner, achselzuckend.
»Ich _muß_ Jemanden aus dem Geschäft noch diesen Abend sprechen« beharrte
aber der Professor in der einmal gefaßten Furcht, daß er die Abfahrt des
Schiffs versäume, »können Sie nur Jemand von hier mitgeben, so mögen meine
Damen so lange in das Gastzimmer gehn und sich ein wenig restauriren. Ist
es dann nöthig, so nehmen wir nachher Extrapost und fahren nach Bremer
Hafen hinaus.«
Die Damen waren indeß ausgestiegen, und die verschiedenen Collis in dem
Gastzimmer, an dessen Abendtafel es ziemlich lebhaft herging, neben dem
Ofen aufgethürmt worden zu augenblicklicher Weiterbeförderung, falls diese
nöthig werden sollte, bereit zu sein. Der Professor Lobenstein aber ging
raschen Schrittes, mit dem einsylbigen Hausknecht als Führer, die Straßen
entlang, dem bezeichneten Stadtviertel zu, bis Jahn, wie der Hausknecht
hieß, vor einem sehr eleganten Hause Halt machte und dort auch, ohne
weiter ein Wort zu sagen, mit solcher Gewalt an dem Messinggriff der
Klingel riß, daß das ganze Haus von dem so plötzlich geweckten Geläute
wiederschallte.
»Aber um Gottes Willen« rief der etwas rücksichtsvolle Fremde erschreckt.
»Dat sollen se woll ’hört hebben« meinte aber Jahn ruhig und schob seine
Hände, wie vollständig mit sich zufrieden in die Taschen, während drinnen
im Haus ängstlich bestürzte Stimmen laut wurden, und Leute hin und wieder
liefen. Oben in der ersten Etage öffnete sich aber auch gleich darauf ein
Fenster, und eine ziemlich ärgerliche Baßstimme frug herunter wer da wäre,
und wo es brenne?
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung« sagte aber der Professor,
unwillkürlich in der Dunkelheit seinen Hut abnehmend, »mein Führer hier
hat so entsetzlich an der Klingel gerissen.«
»Zu wem wollen Sie?« frug der Baß oben, die Entschuldigung unten kurz
abschneidend — »hier wohnt kein Doktor.«
»Habe ich das Vergnügen mit Herrn Hessburg zu sprechen?« frug aber der
Professor zurück.
»Mein Name ist Hessburg,« sagte der Baß.
»Dann sind Sie wohl so freundlich mir zu sagen, um welche Tageszeit die
Haidschnucke morgen segelt« sagte der Professor, froh endlich an den
rechten Mann gekommen zu sein, »und ob ich noch zur rechten Zeit komme,
wenn ich jetzt Extrapost nehme und die Nacht durch nach Bremerhafen fahre
— ich habe mich um einen Tag verspätigt und möchte das Schiff nicht
versäumen.«
»Extrapost nehmen?« frug die Stimme oben erstaunt; »morgen früh um sechs
und Mittags um elf geht ja ein Dampfboot nach Bremerhafen, warum wollen
Sie denn nicht mit dem fahren?«
»Aber komme ich dann noch zur rechten Zeit?«
Die Stimme oben murmelte etwas, das der Professor unten nicht verstehen
konnte — »sind Sie ein Passagier der Haidschnucke?« sagte es dann wieder
lauter.
»Aufzuwarten — Professor Lobenstein aus Heilingen.«
»Ah — bitte um Entschuldigung Herr Professor, daß ich Sie habe so lange da
unten stehen lassen. Marie machen Sie einmal unten die Thüre auf.«
»Bitte, bitte« rief aber der Professor — »ich will Sie keineswegs mitten
in der Nacht belästigen — also komme ich noch früh genug wenn ich morgen
um sechs Uhr mit dem ersten Boot abfahre?«
»Die Haidschnucke wird wohl kaum vor Abend in See gehn — der Wind ist noch
nicht ganz günstig« sagte der Baß oben — »wenn Sie um 11 Uhr fahren haben
Sie vollkommen Zeit — das Schiff liegt vor Brake und wird morgen früh noch
einige verspätete Fracht an Bord nehmen.«
»Vor Brake?« wiederholte der Professor, mit der Geographie der Weser noch
nicht so weit bekannt.
»Der Hafen diesseit Bremerhafen« sagte der Baß — »die Leute auf dem
Dampfboot kennen den Ort und das Schiff —«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden —«
»Bitte Herr Professor — Sie werden entschuldigen —«
»Bitte sehr — ich habe um Entschuldigung zu bitten —, Sie in so später
Nachtzeit noch gestört und belästigt zu haben.«
»Oh — war mir sehr angenehm Ihre werthe Be —« das übrige verschwamm in
einem dumpfen, unverständlichen Murmeln, unter dem sich das Fenster oben
langsam wieder schloß, und der Professor bedeutete seinen Führer, ihn so
rasch als möglich, zu dem Hotel zurückzubringen.
Lobensteins hatten dort indessen, so gut das in dem ziemlich besetzten
Speisesaal eben gehen wollte, einen der Ecktische in Besitz und Platz
daran genommen, und sich Thee und Butterbrod geben lassen, auf eine
mögliche Nachtfahrt mit Extrapost wenigstens in etwas vorbereitet zu sein.
Die beiden jüngsten Kinder, Carl und Gretchen mußten dabei im Schlaf in
die Stube getragen und konnten kaum munter erhalten werden, noch etwas zu
sich nehmen, und legten sich dann mit den Köpfchen, Carl auf den Tisch und
Gretchen in Mutters Schooß — weiter zu schlafen.
Der Aufenthalt in dem großen, heißen Saale, mit den vielen Menschen, dem
lauten Reden und Lachen und dem fast undurchdringlichen Tabacksqualm, die
ganze fremde Umgebung dazu mit dem unbestimmten Gefühl das Schiff, mit dem
ihre sämmtlichen Sachen befördert worden, am Ende gar schon versäumt zu
haben, auch das übernächtige einer späten Fahrt, auf der mit bleierner,
peinlicher Schwere der kaum überstandene Abschied aus der Heimath lag, das
Alles vereinigte sich sie niederzudrücken und ernst und traurig zu
stimmen, und das einfache Abendbrod wurde still und schweigend verzehrt.
Jedes war mit seinen eigenen Gedanken viel zu sehr beschäftigt sich dem
Andern mitzutheilen.
Nur Eduard, Professor Lobensteins ältester Sohn, der einzige vielleicht
von der ganzen Familie, der sich wirklich auf die Reise freute und gern
das regelmäßige, ihm entsetzlich langweilig vorkommende Schulwesen
verlassen hatte, einem anderen, freieren Lebensberuf zu folgen, gab sich
in dem Reiz der Neuheit, der die Jugend über so Manches hinwegsetzt, den
fremdartigen Eindrücken selbst mit einigem Behagen hin. Die Rücklehne
seines Stuhles gegen die Wand lehnend, überschaute er die bunten, sich vor
ihm wie auf einem aus der Erde heraufbeschworenen Theater bewegenden
Gruppen, und lauschte den sich fast sämmtlich um Amerika und die Reise
drehenden Gesprächen der ihm nächsten Gäste und Fremden, bis sein Blick
endlich auf einen kleinen Mann fiel, der ihnen gerade gegenüber und das
Gesicht ihnen zugewendet, seinen Platz genommen hatte, und sie auf das
aufmerksamste zu betrachten schien.
Der Fremde saß verkehrt auf seinem Stuhl, die Arme auf die Lehne desselben
und sein Kinn wieder auf diese stützend, und schien sich in der That von
der übrigen Gesellschaft ganz zurückgezogen oder abgewandt zu haben, und
die neuangekommene Familie auf das Genauste zu betrachten.
Es schien übrigens, wie er _so_ da saß, ein kleines schmächtiges Männchen
von vielleicht vierzig bis vierundvierzig Jahren, mit grauer runder Mütze
und schwarzem vorn fast spitz zulaufendem Schild, grauem Frack, grauer
Hose, grauer Weste, grauem Halstuch und grauen Zeugstiefeln, in der linken
Hand, lang zusammengefaltet, ein paar graue Zwirnhandschuh. Die kleinen
lebhaften Augen funkelten dabei scharf und forschend unter dem spitzen
ziemlich tief niedergezogenen Mützenschilde vor, und hafteten so lang und
so forschend erst auf dem jungen Mann, dann auf der Mutter und auf den
Töchtern, bis er Eduards Auge ebenfalls auf sich zog und dann, als ob er
fühle daß sein Betragen vielleicht auffällig wäre, sich weiter mit seinem
Stuhl zurückzog und sich mehr seitwärts setzte. Seine Blicke schweiften
aber dennoch fortwährend, und wie fast unwillkürlich, nach dem Tische
hinüber, an welchem die fremden Damen saßen, und hafteten dann
hauptsächlich — Eduard, als er erst einmal aufmerksam wurde, konnte das
deutlich erkennen — auf seiner Mutter.
Die Frau Professorin war jedoch viel zu sehr mit ihren Kindern und der
Sorge um ihr Gepäck beschäftigt, den kleinen grauen Mann auch nur zu
bemerken, viel weniger denn zu finden daß sie selber von ihm so scharf
beobachtet wurden, bis sie Eduard endlich darauf aufmerksam machte und sie
frug, ob sie den Fremden vielleicht schon früher einmal gesehen habe. So
wie sie aber zu dem hinüber sah, stand er, wie verlegen, von seinem Sitze
auf, zog die Mütze vorn womöglich noch weiter herunter, steckte dann beide
Hände hinten in seine Fracktaschen, und verließ, leise vor sich hin
pfeifend, das Zimmer.
»Sie, Kellner!« rief aber jetzt Eduard, den der Mann an zu interessiren
fing, einem der um sie beschäftigten aber ebenfalls ziemlich schläfrig
aussehenden Kellner zu — »kennen Sie den Herrn der da eben hinausging?«
»Eben hinausging?« sagte der Kellner, einen faulen Blick nach der Thür
werfend — »ich habe nicht darauf geachtet.«
»Der mit der grauen Mütze und dem grauen Rock.«
»Ach — die Nachtigall?« sagte der Kellner, und ein breites, etwas dummes
Lächeln zog ihn den Mund fast von einem Ohre bis zum andern.
»Die Nachtigall?« wiederholte Eduard etwas verdutzt.
»Nun Sie meinen doch den kleinen grauen Mann mit dem spitzen
Mützenschilde?« lachte der Kellner.
»Ja wohl, denselben.«
»Nun ja, das ist ein sonderbarer Kautz, der schon acht Tage bei uns wohnt.
Er heißt Schultze und will mit der Haidschnucke nach Amerika.«
»Mit der Haidschnucke? — mit der wollen ja auch wir fort« — rief Eduard
rasch — »also segelt sie noch nicht morgen in aller Früh?«
»Ich glaube nicht« sagte der Kellner, »sonst wäre die Nachtigall doch
schon längst nach Bremerhafen hinauf — auf wann war sie denn angezeigt?«
»Auf morgen früh — bestimmt.«
»Ah da haben Sie noch Zeit genug,« gähnte der Kellner — »_unter_ acht
Tagen gehn Sie dann gewiß noch nicht in See.«
»_Acht_ Tage?« rief Eduard erschreckt — »das wäre eine schöne Geschichte
wenn wir hier noch acht Tage im Wirthshaus liegen sollten.«
»Lieber Gott« meinte der Kellner, eine Parthie abgegessener Teller von
einem der Nachbartische aufnehmend und damit fortgehend — »die Auswanderer
liegen hier manchmal vier und sechs Wochen, ehe ihr Schiff segelt.«
»Das wären traurige Aussichten« sagte Anna, die nicht weit von Eduard saß,
und des Kellners Bemerkung gehört hatte — »da hätten wir uns freilich die
letzten Tage in Heilingen nicht so entsetzlich abzuhetzen brauchen.«
»Was weiß der Kellner davon« tröstete sie aber Eduard; »apropos, der
kleine graue Mann, der uns da gerade gegenübersaß und Mutter immer so
anstarrte, geht auch mit der Haidschnucke nach New-Orleans?«
»Um Verzeihung,« fiel hier ein anderer Fremder, der an einem benachbarten
Tisch saß, ein, sich im Stuhl etwas zurückbiegend — »habe ich recht gehört
und gehen Sie wirklich mit der Haidschnucke nach New-Orleans?«
»Allerdings« erwiederte ihm Eduard — »wir haben unsere Passage auf dem
Schiff genommen.«
»Ah, das ist mir doch ungemein angenehm« erwiederte der Fremde sich rasch
vollständig gegen die Damen herumdrehend; »da bin ich so frei mich Ihnen
als künftigen Reisegefährten gehorsamst vorzustellen.«
Die Damen verbeugten sich leicht gegen den sich selber Einführenden, und
Frau Professor Lobenstein wollte ihn eben fragen ob er etwas Bestimmtes
über die Abfahrt des Schiffes wisse, er ließ sie aber gar nicht zu Worte
kommen, und fuhr rasch, seinen Stuhl jetzt vollständig zu ihrem Tische
rückend, fort:
»Ist mir doch wirklich sehr angenehm; wunderbares Zusammentreffen das,
ebenfalls, eh? — wie sich die Leute doch so auf der Welt finden; kommen
hier in _einem_ Gasthaus, an _einem_ Tisch zusammen und sind, unbewußt, im
Begriff eine so ungeheure Reise mit einander zu machen und die Gefahren
des Oceans zu theilen. Liegt ungeheuer viel Poesie in dem Gedanken.«
Der gesprächige Fremde machte hier zum ersten Mal eine Pause, indem er
seine ziemlich geleerte Weinflasche und sein Glas von dem Tisch an dem er
vorher gesessen, herüber nahm, und vor sich hinstellte, und sein Glas
dabei wieder füllte und mit einer Verbeugung gegen die Damen trank.
Es war ein Mann ziemlich hoch in den Dreißigen, sehr sorgfältig angezogen,
mit einem großen Siegelring an dem Zeigefinger der rechten und drei oder
vier anderen Ringen an dem kleinen Finger der linken Hand. Er trug sein
Haar dabei _à la malconte_, vollkommen kurz abgeschnitten, und wie es
schien dem Bart zu Liebe, dem er desto volleres und unbeschränkteres
Wachsthum gestattete. Die Tuchnadel, die seine schwarzseidene,
kunstgerecht gefaltete Cravatte zusammenhielt, war ein kleiner goldener
Bacchus auf einem Faß, der einen, wahrscheinlich unächten Diamant als Glas
in die Höhe hielt und sein ziemlich starkes Uhrgehänge bestand aus einer
Unmasse kleiner goldener oder vergoldeter Werkzeuge, Hammer, Korkzieher,
Pistolen, Flaschen, Musikinstrumente &c. &c. Sein Gesicht machte dabei
gerade keinen angenehmen Eindruck; die Stirn war sehr niedrig und etwas
zurückgehend, mit einer ziemlich tiefen Falte queer darüber hinziehend,
und die kleinen blauen Augen flogen unruhig umher, während er sprach,
indeß der Zug um den Mund eine merkwürdig stark ausgeprägte
Zuversichtlichkeit, wie vielleicht auch Eigenliebe verrieth; dennoch ließ
sich ein gutmüthiger Ausdruck darin nicht verkennen, und das ganze Gesicht
war entschuldigt, sobald man erfuhr, daß es einem Weinreisenden gehörte.
»Und können Sie uns vielleicht genau die Abfahrt des Schiffs sagen?« frug
die Frau Professorin endlich, die erste mögliche Pause benutzend; »es hieß
daß es schon morgen früh in See gehen sollte.«
»Wind und Wetter _permitting_ wie die Engländer sagen« lächelte der
Weinreisende, sehr zufrieden dadurch zugleich seine nautischen wie auch
sonstigen Kenntnisse der englischen Sprache gezeigt zu haben.
»Was heißt das?« sagte die Frau Professorin, etwas verlegen.
»Ah, daß ein Schiff nicht segeln kann, wenn der Wind nicht günstig ist,«
lächelte der Weinreisende nach den beiden jungen Damen hinüber. »Uebrigens
wird die Haidschnucke keineswegs vor morgen Abend in See gehn« setzte er
beruhigend hinzu; »ich bin mit dem Capitain sehr eng befreundet — wir
haben schon manche Flasche zusammen ausgestochen, und er hat mich
versichert daß er morgen Abend um sechs Uhr, mit eintretender Ebbe, seinen
Anker lichten und seine Segel spannen würde. Sie wissen wohl, gnädige Frau
— »Segel gespannt und den Anker gelichtet,« wie wir Seeleute singen.«
»Also vor morgen _Abend_ nicht? oh das ist mir _sehr_ lieb« sagte die Frau
beruhigt; »dann brauchen wir auch nicht die Nacht durchzureisen und ich
kann die Kinder zu Bett bringen, sobald der Vater zurückkommt. Sie wissen
es doch ganz gewiß?«
»_Parole d’honneur_!« sagte der Weinreisende, sich, mit der rechten Hand
und den Siegelring auf dem Herzen, verbeugend. »Uebrigens« fuhr er
lebhafter fort, »wird, nach Goethe, wie bekannt, durch zweier Zeugen Mund,
überall die Wahrheit kund, und hier an dem Tisch sitzt noch ein
Reisegefährte von uns, der ebenfalls seine Passage auf der Haidschnucke
genommen hat und erst wahrscheinlich morgen früh um elf Uhr mit dem
zweiten Dampfboot nach Brake fahren wird, an Bord zu gehn — Herr
Mehlmeier, dürfte ich Sie bitten sich einen Augenblick hierherüber zu
bemühen und — Sie erlauben mir doch daß ich ihnen Herrn Mehlmeier
vorstellen darf?«
»Wird uns sehr angenehm sein« sagte die Frau Professorin etwas verlegen;
es war ihr eben _nicht_ angenehm, in der Abwesenheit ihres Mannes mit so
vielen fremden Menschen hier zu verkehren.
Herr Mehlmeier, der indessen still und regungslos, und ohne auch nur den
Kopf nach jemand Anderem umzuwenden, vor seinem wieder und wieder
gefüllten Glas Bier gesessen hatte, war bei dem Ruf seines Namens
aufgesprungen, als ob ihn was mit einer Stecknadel an irgend einem
empfindlichen Theil gestochen hätte. Es war eine große, fast übermäßig
starke Gestalt, die des Herrn Mehlmeier, mit einem vollen runden
gutmüthigen Gesicht, sehr breiten Schultern und stattlichem, etwas
bauchigem Körper, Marie aber sowohl wie Eduard, und selbst Anna konnten
sich kaum eines Lächelns erwehren, als er den Mund öffnete, und mit einer
ganz feinen weichen, fast weiblichen Stimme ausrief:
»Was befehlen Sie Herr Steinert?«
»Ach lieber Herr Mehlmeier,« rief aber Herr Steinert — »ich wollte mir vor
allen Dingen die Freiheit nehmen, Sie den Damen hier, die wir so glücklich
sind künftige Reisegefährtinnen von uns zu nennen, nach aller Form
vorzustellen — Herr Christian Mehlmeier von Schmalkalden — und — aber ich
weiß wahrhaftig Ihren eigenen Namen noch nicht, meine Damen —«
»Die Familie des Professor Lobenstein aus Heilingen« nahm hier Eduard das
Wort, der sich jetzt besonders für den dicken Mann mit der feinen Stimme
interessirte.
»Professor Lobenstein?« rief Herr Steinert, rasch nach dem jungen Mann
herumfahrend — »Familie des Professor Lobenstein — _corpo di Bacho!_ da
sind wir ja alte Bekannte — habe das Vergnügen schon früher gehabt mit
Ihrem Herrn Vater in einer sehr angenehmen Geschäftsverbindung zu stehn —
ich machte in Weinen für das Haus Schwartz und Pelzer in Frankfurt am Main
— und der Herr Professor machten ebenfalls die Reise mit.«
»Wir erwarten ihn jeden Augenblick« sagte die Frau Professorin, sich dabei
ungeduldig nach der Thüre umsehend, denn die Bekanntschaft des Herrn
Steinert, der mit seiner lauten Stimme schon die Aufmerksamkeit
sämmtlicher übrigen Gäste auf sie gezogen hatte, fing an ihr drückend zu
werden.
»Er ist eben fortgegangen sich über die genaue Abfahrt des Schiffes
Gewißheit zu holen,« ergänzte Eduard.
»Ah ja, unser Schiff« rief Herr Steinert, sich plötzlich wieder der Sache
erinnernd, wegen der er Herrn Mehlmeier eigentlich herbeigerufen. »Sie
haben ja selber heute mit den Rhedern gesprochen, nicht wahr lieber
Mehlmeier?«
»Ja wohl« sagte der dicke Mann mit seiner feinsten Stimmlage, während er
dabei stark mit dem Kopf schüttelte.
»Dann ist also keine Gefahr daß wir das Schiff versäumen, wenn wir bis
morgen früh hier bleiben?« frug die Frau Professorin. Herr Mehlmeier
nickte ihr aber sehr bedenklich zu und sie frug rasch — »Sie glauben
doch?«
»Bitte um Verzeihung — Gott bewahre« sagte der dicke Mann erschreckt. —
Das Gespräch wurde aber hier durch den Professor selber unterbrochen, der
in diesem Augenblick den Saal betrat und noch unter der Thür zwei Zimmer
für sich und die Seinen mit den nöthigen Betten, bestellte. Der
Oberkellner war ihm darin aber schon zuvorgekommen, und trotzdem daß Herr
Steinert jetzt mehre Anläufe nahm ein Gespräch mit Professor Lobenstein
anzuknüpfen, und sich ihm als alten Bekannten vorzustellen, hatte dieser
doch zu wenig Zeit sich, außer einigen höflich gewechselten Worten, mit
ihm näher einzulassen. Die Frauen waren müde und erschöpft, und das Gepäck
mußte nach oben geschafft werden, wo der Professor selber seinen Thee
trinken wollte; so jede weitere Unterhaltung auf den nächsten Morgen
verschiebend, empfahlen sich die Neugekommenen, und verschwanden gleich
darauf mit den voranleuchtenden Kellnern in den Gängen der ersten Etage.
In dem Gastzimmer des Hannöverschen Hauses begann aber jetzt erst, trotz
der späten Stunde, ein reges geselliges Leben. Viele der Passagiere der
Haidschnucke, wie noch mehrer anderer Schiffe deren Abreise theils auf
morgen, theils auf die nächsten Tage angekündigt worden, hatten sich hier
zusammengefunden und feierten unter Lachen und Singen, mit Bier oder
Champagner, und lustigen fröhlichen Plänen für »da drüben,« den »letzten
Tag in der Heimath« wie sie’s nannten.
»_Den letzten Tag in der Heimath_« — wie leicht, wie lustig sie das
sprachen, und wie laut und fröhlich die Gläser dazu klirrten, und die
Stimmen einfielen in den donnernden rauschenden Chor ihrer heimischen
Lieder. Den letzten Tag in der Heimath; und für wie Viele war es der
_letzte_ Tag — wie Wenige von allen denen, die jetzt jauchzend das neue
fremde Leben begrüßten, und die Erinnerung in Strömen Weins verschwemmten,
sollten die Heimath wirklich wiedersehn, nach der doch alle Fasern ihres
Herzens zurück sich sehnten viele Jahre lang. »Der letzte Tag in der
Heimath« oh es denkt sich leicht, mit all den wundertollen Bildern, die
unsere Phantasie sich aufgebaut, gewissermaßen schon in Sicht — in Arms
Bereich. Mit dem alten Leben abgeschlossen hinter sich, voll Ungeduld dem
Augenblick entgegensehend wo sie das neue beginnen dürfen und können, ist
ihnen das Vaterland nur noch das letzte Sprungbret, von dem aus sie mit
keckem fröhlichem Satz einer neuen Welt in die Arme fliegen, und sie
_feiern_ den Tag und die Stunde, vor deren Nahen sie Jahre lang gebebt —
oh daß sie nie den Tag beweinen müßten.
Die Fröhlichkeit der Auswanderer ist aber in solchen Fällen auch selten
eine ruhige, meist eine wilde, ausgelassene, wie das auch wohl kaum anders
der Fall sein kann; sie _wollen_ nicht zurückdenken an das was hinter
ihnen liegt, und das Nöthigste was sie dabei zu thun haben, ist die
Gedanken zu betäuben, die ihnen oft dennoch ins Hirn steigen, sie mögen
sie eben haben wollen oder nicht.
Eine Menge der jungen Leute waren an dem Abend noch einmal im Theater
gewesen, in der fremden Stadt irgend ein altes bekanntes Stück aufführen
zu sehen, und saßen jetzt bei ihrem Abendessen und Wein, und sprachen und
stritten sich über die Aufführung, als ob sie nur eben deretwegen allein
nach Bremen gekommen wären. Dort in der Ecke rechneten ein paar, die
wahrscheinlich gemeinsame Casse mit einander hatten, und jetzt ihre
gehabten und zu habenden Auslagen wohl durchsahen; die meisten aber
lachten und plauderten mit einander und tranken und sangen noch, heimische
Weine und Lieder bis spät in die Nacht hinein.
Ganz still und geräuschlos war indessen ein alter polnischer Jude in
seiner Nationaltracht, dem langen schwarzen schmutzigen seidenen Kastan,
mit einem Knaben von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren hinter sich,
ebenfalls in das Gastzimmer gekommen, und hatte sich an einem der leer
gewordenen Seitentischchen ein Glas Bier geben lassen, von dem er in
langsamen, durstigen Zügen trank. Der Knabe trug ein, in ein
rothbaumwollenes Tuch eingeschlagenes Packet unter dem linken Arme, das er
neben sich auf den Tisch legte und sich dann zurück auf seinen Stuhl
setzte, den Kopf auf die Lehne desselben lehnte, und die Augen ermüdet
schloß. Das grelle Licht der Lampen fiel voll auf die bleichen, von
schwarzen vollen Locken umwogten Züge, und der sonst wirklich schöne Kopf
des Kindes bekam, auch vielleicht mit in der unnatürlichen
zurückgeworfenen Lage, etwas unheimlich Krankhaftes, ja fast
Leichenartiges.
»Komm Philipp« sagte der Alte, als sie eine Weile so gesessen hatten, mit
unterdrückter Stimme, indem er den jungen Burschen mit dem Fuße anstieß —
»es werd spät, pack die Harmonika aus und laß uns anfange. Die Leut’ hoben
hier viel getrunken und sind guter Laune; werd auch ’was für uns dabei
abfalle.«
Der Knabe öffnete die großen schwarzen Augen und sah den Mann ein paar
Secunden starr an, als ob er nicht recht begriffen hätte was er sagte.
»Na, werd’s bald?« rief aber dieser, ärgerlich aufbrausend, aber doch so
leise daß es selbst die an den nächsten Tischen Sitzenden nicht verstehen
konnten — »ist es dem jungen Herrn gefällig, oder soll ich ihn etwa
aufwecken?«
»Ja ja, Vater!« rief der Knabe jetzt, rasch und erschreckt emporfahrend —
»wollen wir denn noch singen heute Abend?« setzte er aber langsamer und
fast wie ängstlich hinzu.
»Wolle wir denn noch singen?« wiederholte der Alte spöttisch und
ärgerlich, »Gottes Wunder, glaubt der junge Herr daß ich ihn Abends in die
Wirthshäuser führe zu seinem Vergnigen? — wolle wir denn noch singen?
Abraham und Jacob, was ist das for a Frog.«
Der Knabe war übrigens schon bei den ersten ärgerlichen Worten des Alten
von seinem Stuhle aufgesprungen, und sich die Locken aus der Stirn
streichend, machte er sich eifrig daran, das auf dem Tisch liegende Packet
aufzuknüpfen, und den Inhalt auf der Tafel desselben auszubreiten. Hierbei
war ihm der Alte behülflich, und ordnete jetzt selber eine Masse mit
einander leicht verbundener Stöcke oder Stäbe von weichem Holz, die,
manche stärker, manche schwächer, mit einer Unterlage von dünn- aber
festgedrehten Strohseilen auf den Tisch an beiden Enden auf- und in der
Mitte hohlzuliegen kamen.
»Hallo was ist das?« rief Steinert, der dem Tische zunächst saß und die
wunderlichen Vorbereitungen bemerkte — »eine Holzharmonika, wahrhaftig —
ah, meine Herren, jetzt werden wir etwas zu hören bekommen; die klingt
famos, wenn sie der alte Bursche da nur zu spielen versteht.«
»Werd’ er sie nicht zu spielen verstehn — spielt sie schon fünfundzwanzig
Jahr« schmunzelte der Alte vergnügt vor sich hin — »nu Philippche, mei
Jingelche jetzt paß auf, und fall mer ein zur rechten Zeit mit der Flöte.«
Zugleich die beiden, ihm zur Hand liegenden Klöppel ergreifend, fuhr er
mit rascher geübter Hand über die eigenthümlichen Tasten hin, denen er
dabei einen nicht zu lauten, aber wunderbar harmonischen vollen Ton
entlockte. Wie Glockenspiel klangen die Laute, die entfernteren Räume mit
ihrem Wohlklang füllend, und die Gäste, nach allen Richtungen hin horchten
hoch auf, vergaßen von was sie gesprochen, und kamen heran, den Tisch
umdrängend, an dem der alte Jude spielte.
»So Philippche, nu fang an!« nickte er aber jetzt dem Knaben zu, der bis
dahin still und regungslos neben dem Tisch gestanden und sich kaum der
Leute hatte erwehren können, die ihn umpreßten; dabei fiel er in die
englische Volkshymne _God save our gracious queen_ ein, die der Knabe
jetzt in der zweiten Stimme mit der Kehle, aber so täuschend den vollen
weichen Laut der Flöte nachahmend, begleitete, daß die Zuhörer wirklich in
den ersten Minuten ganz die Harmonika vergaßen und noch näher
hinanwollten, nur um zu sehen ob der junge Bursche nicht wirklich eine
Flöte habe auf der er spiele, und das Alles allein aus der eigenen Kehle
herausbringe.
Der alte Mann, den der Zudrang freute, denn er bewies ihm die Theilnahme
der Hörer und ließ ihn auf gute Einnahme rechnen, fuhr dabei mit großer
Leichtigkeit und Sicherheit über die fibrirenden Tasten, und seine ganze,
erst so ruhige in sich gesunkene Gestalt schien mit den Tönen Leben zu
gewinnen, und aus sich herauszugehn. Es war eine kleine schmächtige, aber
zähe und knochige Gestalt, der Mann in dem schwarzen, schmutzigen Kastan;
über die scharf gebogene Nase zog sich ihm eine tiefe dunkle Falte, und
zwei schwarze Gruben in den hohlliegenden Wangen hoben die
dunkelglühenden, unstet umherblitzenden Augen nur noch mehr hervor, und
verloren sich in dem fuchsigen, sorgfältig gekämmten langen und spitzen
Bart, der nur am Kinn in den schon weiß gewordenen Haaren das Alter des
Mannes verrieth.
Der Knabe war, wie schon gesagt, etwa zwölf bis dreizehn Jahre alt, trug
aber nicht die polnische Tracht, sondern einen gewöhnlichen Rock und eine
blaue Mütze, die er neben sich auf dem Tisch liegen hatte, während der
Mann sein altes schmutziges abgegriffenes Sammetmützchen aufbehielt. Das
zwar bleiche doch wirklich schöne asiatische regelmäßige Gesicht des
Kindes — denn es konnte kaum über die Kinderjahre hinaus sein, blieb aber
kalt und theilnahmlos bei den weichsten, ergreifendsten Tönen seiner
eigenen Brust und, ohne Seele, beherrschte er mit wunderbarer Gewalt fast,
die mächtige Stimme, die sich oft zu einer Stärke hob, daß die Umstehenden
ihr lautes Erstaunen nicht zurückhalten konnten, und dann in stürmischen,
donnernden Beifall ausbrachen. Mit unnatürlicher Gewalt mußte der Knabe
dabei seine Stimme, die Töne der Flöte nachzuahmen, zu ihrer höchsten Lage
hinaufzwingen, und der Schweiß stand ihm auf der weißen Stirn in großen
Tropfen, solche Anstrengung kostete es ihm. Aber der Alte spielte
unverdrossen fort — jetzt »Lützow’s wilde verwegene Jagd« wie es Einzelne
der Gesellschaft wünschten, und dann »des Deutschen Vaterland« nach
Anderer Ruf; dann den Jägerchor, und die neueste Polka, und Trinklieder
zuletzt, zu denen sie ihm und dem Knaben Wein brachten, bis spät in die
Nacht hinein.
Zuletzt konnte aber der Knabe nicht mehr — die Stimme schlug ihm mehrmals
über, und wenn ihn gleich der Alte ärgerlich dabei ansah, ließ es sich
nicht erzwingen. Philipp schaute bittend zu ihm auf und schüttelte mit dem
Kopf, und der Alte legte plötzlich seine Klöppel bei Seite und fing an die
Hölzer wieder zusammenzupacken, während welcher Zeit der junge Bursch
einen Teller nahm und in dem Zimmer sammelnd umherging. Die Gäste schienen
allerdings mit dem frühen Aufbruch, wie sie’s nannten, gar nicht
zufrieden, und Steinert besonders verlangte noch einige Lieblings- Trink-
und Weinlieder, die kein Mensch weiter kannte, der alte Mann schüttelte
aber mit dem Kopf und meinte es sei genug, sein Junge würde ihm sonst
krank und könnte nicht mehr pfeifen, und der Ertrag der Sammlung fiel
dabei über alles Erwarten reich und günstig aus.
Auswanderer, vorzüglich die in den Hotels wohnenden, haben meist immer
noch eine Menge »deutsches Geld« in den Taschen, das sie, wie sie sagen
»doch nicht mit auf das Schiff nehmen können« und sind gewöhnlich sehr
freigebig mit dieser kleinen Münze, so lange sie eben dauert. Sehr zu
ihrem Erstaunen müssen sie dann aber auch freilich nicht selten schon
eingewechseltes amerikanisches Geld wieder »in den Markt« bringen, und die
ewige Klage ist nachher »oh die theueren Seestädte.«
»Von woher seid Ihr denn, Alter?« frug ihn jetzt Steinert, der, noch am
sparsamsten, nur einige Grote auf den Teller geworfen hatte — »doch nicht
aus Bremen?«
»Gott der Gerechte, nein!« lächelte der Gefragte, mit einem flüchtigen
aber zufriedenen Blick den Haufen eingesammelter Münzen, unter denen sich
nicht ein einziges Kupferstück befand, überfliegend — »bin ich doch von
Bromberg.«
»Von Bromberg? Donnerwetter das ist weit« sagte der Weinreisende — »und
was thut Ihr hier in Bremen?«
»Was wir in Bremen thun?« frug der Jude, die Augenbrauen in die Höhe
ziehend — »Gottes Wunder was thun _Sie_ in Bremen?«
»Ei _wir_ wollen auswandern, Alter« lachte der Reisende, einen vergnügten
Blick im Kreis herumwerfend.
»Als ich aach nicht hierbleiben mag, werd’ ich aach auswandern« erwiederte
aber der Israelit, die Schultern in die Höhe ziehend.
»Was? — auch auswandern?« riefen aber viele der Umstehenden wie aus einem
Mund.
»Na?« — sagte aber der Jude, sich erstaunt im Kreise umsehend — »ist’s
etwa wohl zu hibsch hier für uns Jüden, heh? wer sollen uns wohl glicklich
schätze, daß mer derfe unsere Steuern zahle und nachher getreten werden
wie die Hunde?«
»Aber wo geht Ihr hin?« rief Einer der Umstehenden, »nach New-York?«
Der Alte schüttelte mit dem Kopf.
»Nach New-Orleans.«
»Und mit welchem Schiff?« rief Steinert schnell.
»Mit der Haidschnucke.«
»Hurrah der Alte soll leben« jubelten aber die Passagiere der Haidschnucke
um ihn her — »das ist prächtig, das ist ein Reisegefährte der uns die Zeit
vertreiben wird,« und von verschiedenen Seiten wurden noch Flaschen Wein
bestellt den Spielmann zu traktiren, der jetzt kaum hörte wie die Sache
stand, und das Viele der Anwesenden auf ein und demselben Schiff die
Ueberfahrt mit ihm machen würden, als er auch augenblicklich sein erst
halbgeleertes Glas Bier zurückschob und sich mit augenscheinlichem Behagen
dem Genuß des wahrscheinlich lange entbehrten Weines hingab. Der Knabe
aber trank sein Glas aus, und setzte sich dann still und weiter nicht
beachtet, in die eine Ecke, lehnte den Kopf zurück gegen die Wand, und
schloß die Augen — vielleicht schlief er — bis die späte Nachtstunde auch
die Uebrigen mahnte aufzubrechen, und ihn sein Vater abrief, ihr eigenes
Lager in einem kleinen billigen Wirthshaus in der Neustadt aufzusuchen.
Capitel 2.
DER WESERKAHN.
Der nächste Tag war ein gar geschäftiger für die Passagiere zweier
Seeschiffe, die noch an demselben Abend expedirt zu werden hofften, und —
der Aussage der Rheder wenigstens nach — segelfertig und bis auf einige
unbedeutende Kleinigkeiten vollständig gerüstet, vor Anker lagen.
Tausenderlei Sachen mußten noch besorgt und eingekauft werden, die man
theils für nöthig, theils selbst für unentbehrlich hielt; Wein und
Branntwein wurde dabei angeschafft, Zucker und Zwieback, eine ganze Ladung
von Heringen und Sardellen eingelegt, den schlimmsten Feind der Reisenden,
die Seekrankheit, wenn nicht zu bannen, doch damit in ihren Wirkungen zu
schwächen. Auch mit Blech und anderem Geschirr, mit Messer, Löffeln und
Gabeln als auch verschiedenen Gewürzen, hatten sich besonders die
Zwischendeckspassagiere zu versehn, denen etwas Aehnliches vom Schiffe aus
nicht geliefert wurde. Und wie viel vergaßen sie noch, was sie nachher
gern auf dem Schiff mit dem Doppelten bezahlt hätten, wo es freilich nicht
mehr zu bekommen war, und wie viel auch wurde überflüssig als geglaubtes
Bedürfniß mitgeschleppt, nachher eine Weile unbenutzt im Weg herumzufahren
und zu verderben, und dann über Bord geworfen zu werden.
Wer aber kann es den Leuten verdenken, daß sie nicht gleich wissen und
verstehn, sich auf eine so lange mühselige und mit Entbehrungen und
Gefahren verknüpfte Reise in wenigen Tagen, oft fast nur Stunden
ordentlich und vollständig vorzubereiten? Meist aus dem inneren Land, mit
der See kaum dem Namen nach bekannt, schwimmt ihnen Alles was sie
vielleicht über eine erste Einschiffung gelesen, nur wie in wirren Bildern
im Hirn herum, die sie dann nicht fassen und halten können, sobald sie das
zum ersten Mal jetzt praktisch ausführen sollen, was sie sich Monate
vorher vielleicht schon einstudirt.
Der Deutsche ist überhaupt, wo es ins praktische Leben eingreift, das
ungeschickteste Menschenkind auf der weiten Gottes Welt. Viel thut
freilich dabei die Erziehung, und gegängelt und am Leitseil geführt nicht
allein bis ins Schwabenalter, sondern oft auch bis ins Grab, wird ein so
vortrefflicher Staatsbürger aus ihm (den alle anderen, fremden Regierungen
nicht genug zu rühmen wissen) daß er eben zu Nichts weiter zu brauchen
ist, und eben nur so _ver_braucht werden muß. Reißt er sich aber einmal
los aus den alten Verhältnissen, läßt er die Leute die bis dahin so
aufmerksam und väterlich für ihn gesorgt — zurück, dann macht er auch im
Anfang gewiß eine Menge dummer Streiche, tritt anderen Leuten auf die
Zehen oder wird von ihnen getreten (in beiden Fällen regelmäßig um
Entschuldigung bittend) und verstößt gegen Alles was ihm in den Weg kommt,
am meisten aber gewiß gegen sich selbst. Später wird er gescheut, aber es
dauert eine lange Zeit.
_Hier_ aber hat er noch manche Entschuldigung für sich; eben erst aus
seinem heimischen Boden gerissen, die Augen noch von, wenn auch
heimlichen, Thränen roth, das Herz zum Brechen voll und den Kopf wüst und
wirr in der Erinnerung an das kaum überstandene; was Wunder daß er da
_die_ Tage gerade, wo er die Sinne recht beisammen haben sollte, wie im
Traume herumgeht, und trotz allen Büchern und Rathgebern die er vorher
gelesen, erst wieder an das Nöthigste denkt wenn er »zu Ruhe kommt«, d. h.
wenn das Schiff in See und die Seekrankheit vorüber ist — weit weit
draußen im Ocean — allerdings etwas zu spät.
So sieht man Schaaren von Auswanderern die Straßen der Seestädte den
ganzen Tag über durchziehn in Gesellschaft und einzeln, die Männer mit
ihren grauen Filzhüten auf und Blousen über die Röcke gezogen, die kurzen
Pfeifen im Mund — die Frauen Kinder an der Hand und auf dem Arme, in
kleinen schüchternen Trupps vor jedem aufgeputzten Laden stehen bleibend
und die Sachen darin bewundernd, oder weiter schlendernd und die
Aushängeschilder buchstabirend, die über den verschiedenen Thüren hängen.
Es ist das die »leere Zeit« in ihrem Leben, der erste Ruhepunkt
vielleicht, so lange sie denken können, eine Zeit in der sie Nichts zu
thun haben — Nichts weniges für _andere_ Leute, wenn auch eigentlich genug
für sich selbst. Wie eine Reihe von Sonntagen, jeder immer länger werdend
als der Vorgänger, schleichen die Stunden an ihnen hin und bieten erst
wieder Stoff zu Gedanken und Betrachtungen draußen in See.
Die Cajütspassagiere, wie solche der Zwischendeckspassagiere, die noch
über einiges Geld zu verfügen hatten, wohnten indessen in den besseren
Gasthöfen Bremens, und benutzten zum Hinausfahren nach ihrem
Bestimmungsort, wo das Schiff vor Anker lag auf dem sie ihre Ueberfahrt
bedungen, eines der kleinen Dampfboote, die täglich zweimal in wenigen
Stunden nach Bremerhafen hinausfahren, und überall an den
Zwischenstationen anlegen; die meisten der Zwischendeckspassagiere aber,
und besonders solche, die von den Rhedern auf einen gewissen Tag
angenommen waren, von dem aus sie beköstigt werden mußten, waren schon an
Bord gegangen,(1) ihr Geld nicht weiter in der theueren Stadt zu
verzehren. Die jedoch, die sich noch in der Stadt befanden und auf freie
Passage nach Bord zu mit ihrem Gepäck, Anspruch machten, da sie sich das
gleich in ihrem, mit früheren Agenten abgeschlossenem Schiffscontrakt
festgestellt hatten, waren am 20sten Morgens um sechs Uhr an die
Ausmündung einer bestimmten Straße, unten an die Weser bestellt, wo der
Kahn Nr. 67 — Kahnführer Meinert — lag, von diesem gratis an Bord der
Haidschnucke geschafft zu werden.
Dort versammelte sich denn auch an dem schönen sonnigen Morgen, dem nur im
Westen dunkel aufsteigende Wolken ein kurzes Ende zu machen drohten, eine
Masse Menschen verschiedenartigsten Alters und Geschlechts, um sich mit
dem, versprochener Maßen »bedeckten Flußschiff« an den Ort ihrer
Bestimmung baldmöglichst befördert zu sehn. Kisten und Kasten, an denen
Karrenführer schon seit zwei Stunden herbeigeschafft, lagen an der
bezeichneten Landung bunt aufgestapelt, und Hutschachteln, Reisesäcke,
Körbe mit Victualien &c. &c. wuchsen von Minute zu Minute an Masse und
Gewicht.
Die buntgemischteste Gesellschaft, die sich dabei nur denken läßt,
sammelte sich um die Effecten, junge und alte Männer, ihren Taback in die
freie Luft hinausqualmend und ungeduldig dabei am Ufer auf- und abgehend,
und Frauen und junge Mädchen, fest in ihre Umschlagetücher eingehüllt, die
doch etwas frische Morgenluft abzuhalten. Die Leute waren aber noch nicht
recht bekannt mit einander geworden; die Gespräche drehten sich bis jetzt
nur um das Gepäck und das »bedeckte Flußschiff« das sich noch immer nicht
zeigen wollte. Damit hatten sie aber auch vor der Hand übrig genug zu
thun, denn dem fehlte ein Koffer, dem war ein Schloß von seiner Kiste
abgerissen, oder der Deckel eingedrückt worden; der Eine hatte noch dies
in der Stadt vergessen einzukaufen und mochte nicht mehr hinauslaufen, aus
Furcht die Abfahrt zu versäumen, der Andere das im Gasthaus liegen lassen
und die Menschenmenge wogte und drängte durch einander hin, schimpfend und
fluchend hier, lachend und pfeifend oder singend da, während neue Karren
mit Gepäck noch jeden Augenblick dazu kamen, die Verwirrung, wenn das
überhaupt möglich gewesen wäre, zu vergrößern.
Die einzige, vollkommen unbewegliche Person in diesem Chaos von Menschen
und Gepäck saß auf einem Haufen von Kisten die zuerst hergeschafft und
übereinander gethürmt waren, mit unterschlagenen Beinen regungslos oben
darauf, und schien die Confusion unter und um sich mit ordentlichem
Wohlgefallen, jedenfalls mit vollständiger Gemüthsruhe zu betrachten.
Es war eine, was man so von unten erkennen konnte, vierschrötige derbe und
untersetzte Gestalt, jedenfalls den unteren Volksklassen zugehörig, und
doch auch wieder mit einem gewissen Selbstbewußtsein in den rauhen, nichts
weniger als schönen Zügen, als auch in der ganzen Haltung, wie man es
nicht immer bei diesen findet. Der Mann mochte ungefähr fünf- bis
achtundvierzig Jahre alt sein, und der Ausdruck seines lederartigen
faltigen Gesichts hatte, gleich auf den ersten Blick eine so merkwürdige
und auffallende Aehnlichkeit mit einem großen Affen, der mit
unerschütterlichem Ernst vor einer Menagerie sitzt, und das Wogen und
Treiben der Menge unter sich betrachtet, daß wenige der Passagiere, so
viel sie heut Morgen mit sich selber zu thun haben mochten, an ihm
vorübergingen, ohne überrascht ein paar Secunden vor ihm stehn zu bleiben
und ihn zu betrachten, oder sich gegenseitig ein paar erstaunte
Bemerkungen zuzuflüstern. Die Mädchen besonders warfen oft verstohlene
Blicke zu ihm hinauf, und kicherten dann miteinander. Jedenfalls mußte er
das bemerken, aber er verzog keine Miene, oder wandte auch nur einmal den
Kopf nach einer der Gruppen um, sondern paffte in kurzen, regelmäßigen
Zügen den Rauch aus einer kleinen schmutzigen, abgegriffenen Pfeife, mit
einem großen Porcellankopf, und glich, dies einzige Lebenszeichen
abgerechnet, wirklich einer ausgestopften und dort oben zur Verzierung des
Ganzen hingesetzten Figur. Er trug dabei einen einmal grün gewesenen,
Ziemlich abgescheuerten Rock, der besonders auf den Schultern ordentlich
grau und glänzend aussah, als ob er da oben ganz vorzüglich benutzt
worden; eine erbsgelbe, bis an den Hals hinauf zugeknöpfte gesprenkelte
Weste, ein schwarzes Halstuch, das eifersüchtig auch den geringsten
Schimmer von Wäsche verdeckte, braun und grün gewürfelte Hosen, große
nägelbeschlagene Schuh und einen, in eine Unzahl von Formen
hineingedrückten alten haarlosen und an den Rändern hellgrau gescheuerten
Filzhut, unter dem nur hie und da dünne, straffe und blonde Haare
hervorschauten. Rasirt hatte er sich ebenfalls, wahrscheinlich seit seinem
Entschluß nach Amerika auszuwandern, nicht, und die weißgesprenkelten
Stoppeln die sein breites vorgehendes Kinn umgaben, paßten vollkommen zu
der flachen, wie eingedrückten Nase, den kleinen grauen Augen, vorgehenden
Backenknochen und der niederen Stirn, die sich scharf nach rückwärts, wie
scheu unter den Hut hinunterzog.
So ruhig und anscheinend theilnahmlos aber auch dies Individuum dem
allgemeinen Wirrwarr zuschaute und sich vollkommen geduldig in Zeit und
Umstande geschickt hatte, so ungeduldig wurden die übrigen Passagiere, als
es jetzt vom Dome her sechs Uhr dröhnte und das, eine Strecke weiter oben
liegende Dampfboot, sein Deck mit Passagieren gefüllt, an ihnen
vorbeipuffte. Dabei ließ sich noch nicht die Spur von einem »verdeckten
Flußschiff« wie es sich die Passagiere gedacht, an der Landung blicken,
und nur ein kleiner Weserkahn, wie sie dort überall zum Waarentransport
gebraucht werden, lag gerade quervor an der bezeichneten Straße, dem Platz
genau gegenüber wo ihre Waaren aufgestapelt worden, und der Kahnführer,
ein hagerer dünner Gesell, mit furchtbar langen Armen und großen Händen,
von denen man gar nicht begriff wie er sie je durch die Aermel seiner
Jacke gebracht oder, da sie nun einmal darin waren, wie er sie wieder
herausbringen wollte, ging auf dem Deck seines kleinen Fahrzeugs auf und
ab. Mehrmals versuchte er dabei die Hände in die Taschen seiner
dunkelblauen sogenannten Lootsenjacke zu bringen, aber umsonst, sie gingen
nicht hinein, und er schlenkerte sie dann wieder »zu beiden Borden«
herunter und spuckte, seinen Taback dabei kauend, den braunen ekelhaften
Saft regelmäßig einmal über Stürbord und dann über Backbord ins Wasser
hinüber.
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Capitel 2
»Sie da — lieber Freund« redete ihn endlich Einer der Passagiere an, der,
in einen grauen weiten Ueberrock geknöpft, bis jetzt seiner Ungeduld in
einer verwirrten Masse von Flüchen und Verwünschungen Luft zu machen
gesucht, und das kleine Fahrzeug schon lange ärgerlich betrachtet hatte.
Der Matrose, oder was er sonst war, warf einen Blick über die Schulter
nach ihm hinüber, aber ob er nun glaubte daß die Anrede ihm nicht gelte,
oder sie nicht beachten _wollte_, kurz er setzte seinen Spatziergang an
Deck ruhig fort und gab keine Antwort.
»Sie da — heh — Sie Langer mit der blauen Jacke und der hübschen Mütze —
hören Sie nicht?«
»_Und_?« sagte der Mann jetzt und blieb, den Kopf halb über die Schulter
zurückgedreht, stehn, während er jedoch den Frager nicht dabei an-,
sondern nach den Dächern der nächsten Häuser hinaufsah, als ob ihn von
dort her Jemand gerufen hätte.
Steinert, denn der Mann in dem grauen Ueberrock war Niemand anderes als
unser alter Bekannter, der Weinreisende von gestern Abend, der übernächtig
und mit schwerem Kopf gerade übler Laune genug schien sich über die
geringste Kleinigkeit zu ärgern, murmelte etwas von »Dickschädel« und
»Holzkopf« in den Bart, fuhr aber doch in der begonnenen Anrede fort und
rief, nur noch mit lauterer Stimme als vorher:
»Sie da — Sie werden mit Ihrem Dings da von einem Schiff aus dem Weg
fahren müssen, wenn das andere Schiff kommt, unsere Sachen und uns selber
an Bord zu nehmen. Sie hätten sich wohl nirgends anderswo grad’ in den Weg
hinlegen können?«
Der Matrose oder Kahnführer glitt mit seinen Augen langsam vom dritten bis
zum zweiten und von da bis zum ersten Stock und dann quer über die
Hausthür weg nach dem Fremden nieder, der ihn angeredet hatte und öffnete
dann den Mund — aber blos um ein neues Priemchen Taback hineinzustecken,
wonach er, ohne auch nur eine Sylbe zu erwiedern, seinen Spatziergang an
Deck in der alten Weise und Ruhe fortsetzte. Steinert übrigens, der sich
jetzt ernstlich an zu ärgern fing, war nicht gesonnen sich so leicht
abfertigen zu lassen, und bis an den Wasserrand hinangehend, bis wohin
eine schmale Planke vom Bord des niederen Fahrzeuges aus reichte, schritt
er diese hinan und stieg keck an Deck des »fremden Schiffes« wie die
Uebrigen meinten.
»Guten Morgen« sagte er hier vor allen Dingen, als er sich auf dem fremden
Boden fand, und doch fühlte daß er mit Höflichkeit bei dem sonderbaren,
einsylbigen Mann weiter kommen würde, als mit Grobheiten.
»Morgen« sagte der Schiffer übrigens, ohne, gerade wie vorher, weitere
Notiz von ihm zu nehmen.
»Sagen Sie einmal Freund« nahm aber hier Steinert wieder das Wort, und
suchte sich dem Mann auf seinem Spatziergang entgegenstellen — »wie ist
denn das eigentlich, wollen Sie heute hier liegen bleiben?«
»Nee!« sagte der Schiffer.
»Und wann fahren Sie ab?«
»Sobald wie laden hebben« lautete die Antwort.
Steinert, der nur einen unbestimmten Begriff von Plattdeutsch hatte,
begriff nicht recht was der Mann sagte, und suchte ihm selber jetzt
begreiflich zu machen, wie sie mit jedem Augenblick ein »verdecktes
Flußschiff« erwarteten, das sie und ihre Sachen an Bord der Haidschnucke
schaffen sollte.
»Hm — wo sall’n dat herkomen?« frug der Schiffer aber jetzt mit einem
verschmitzten Lächeln nach dem Frager hinüberblinzelnd.
»Herkommen?« wiederholte Steinert erstaunt — »nach unserem Contrakt mit
dem Rheder müssen wir unentgeltlich mit unserem Gepäck von hier aus an
Bord des Seeschiffes geschafft werden.«
»Op en _Flußschiff_?« sagte der Matrose mit starker und etwas
humoristischer Betonung des hochdeutschen Wortes.
»Jawohl« sagte Herr Steinert.
»Un wie heet _dat_ hier?« sagte der Matrose auf das eigene Fahrzeug
niederdeutend, auf dem sie standen.
Ein böser Verdacht stieg in dem Weinreisenden auf, daß sie etwa gar in
einem solchen »Kasten« transportirt werden sollten. Dessen Bestätigung
blieb auch nicht lange aus, denn nach ein paar Fragen herüber und hinüber
stellte es sich wirklich heraus, daß dies kleine unansehnliche Fahrzeug
das identische »bedeckte Flußschiff« Nr. 67, und der lange Matrose der
Kahnführer Meinert sei, mit dem sie und ihre sämmtlichen Sachen »nach See
zu« geschafft werden sollten. Ein wilder Ausruf des Erstaunens, den der
erschreckte Weinreisende nicht unterdrücken konnte, zog einen Theil der
übrigen Passagiere herbei, und das Deck des kleinen Fahrzeugs schwärmte
plötzlich von einer Masse verblüffter und wirr durcheinander schreiender
Menschen, daß die Leute oben in der Straße stehen blieben oder auch mit
zum Ufer herunterkamen, in der freundlichen Hoffnung, einer möglichen
Prügelei der Auswanderer beiwohnen zu können.
Kahnführer Meinert, denn diese würdige Person war es wirklich selbst, ließ
sich indessen nicht im Mindesten aus seiner Fassung bringen, und
beantwortete alle Fragen seiner neuen ungeduldigen Passagiere mit einer
Ruhe und Gleichgültigkeit, die diese fast zur Verzweiflung brachte.
»Wie viel mal er zu fahren gedächte bis er die Masse Gepäck und Menschen
im Stande sei an Bord abzuliefern.«
»Ein Mal.«
»Ein Mal? — und wenn er sie Einer über den Andern packe gingen sie nicht
Alle hinein.«
»Noch einmal so viel, mit _Bequemlichkeit_, wenn es sein müßte.«
»Wie lange die Reise dauere?«