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<extract>Cécile von T. Fontane
»Clothilde muß von ihr wissen«, sprach er vor sich hin. »Und wenn sie nichts weiß, so doch von ihr hören können. Liegnitz ist just der Ort dazu, nicht zu groß und nicht zu klein, und was das Regiment nicht weiß, das weiß die Ritter-Akademie.
Die Schlesier sind ohnehin miteinander verwandt und haben einen schwatzhaften Zug. Schwatzhaftigkeit, Eigensinn und ›so gerne‹ hat Rübezahl jedem der Seinen in die Wiege gelegt. Ja, Clothilde muß es wissen, an sie zu schreiben hab ich ohnehin, und so denn two birds with one stone. Fräulein Schwester wird freilich sommerlich ausgeflogen und irgendwo im Gebirge sein, in Landeck oder in Reinerz oder gar in Böhmen. Aber was tut's? Die Post wird sie schon zu finden wissen. Wozu haben wir Stephan? Er kommt ja gleich nach Bismarck.«
Und bei diesem Selbstgespräche die Havanna aus der Hand legend, nahm er ein Couvert und adressierte mit großer Handschrift: »Dem Fräulein Clothilde von Gordon-Leslie, Liegnitz, Am Haag 3 a.« Dann schob er das Couvert wieder zurück, legte sich zwei kleine Bogen mit ›Hexentanzplatz‹ und ›Roßtrappe‹ zurecht und schrieb:
<opening>»Meine liebe Clotho.</opening> Genau vier Wochen heute, daß ich mich von Dir und Elsy verabschiedete. Vier Wochen fort aus Eurem traulichen Heim, aber erst seit einer Woche hier, weil ich, als ich von Liegnitz nach Berlin zurückkehrte, Briefe vorfand, die mich in geschäftlichen Angelegenheiten erst nach Hamburg und dann nach Bremen führten. Um Euch wenigstens eine Andeutung zu machen, es handelt sich abermals um Legung eines Kabels. Von Bremen dann hierher, nach Thale, Thale am Harz, und nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Kurort in Thüringen.
Es gereut mich nicht, diesen entzückenden Platz mit seiner erfrischenden und stärkenden Luft gewählt zu haben, denn Luft ist kein leerer Wahn, was der am besten weiß, der ihre mannigfachen Arten an sich selber erprobt hat. Wir gehen einer totalen Reform der Medizin oder doch zum mindesten der Heilmittellehre entgegen, und die Rezepte der Zukunft werden lauten: drei Wochen Lofoten, sechs Wochen Engadin, drei Monate Wüste Sahara. Ja, selbst Malaria-Gegenden werden in kleinen Dosen verordnet werden, etwa wie man jetzt Arsenik gibt. Die große Wirkung der Luftheilmethode liegt in
ihrer Perpetuierlichkeit – man kommt Tag und Nacht aus dem Heilmittel nicht heraus.
Ein gut Teil dieser Heilmethode hab ich auch hier, und so fühl ich denn mehr und mehr die Verstimmung von mir abfallen, die mich, ohne rechten Grund, seit lange quälte. Nur bei Euch war ich frei davon. Die Partien und Ausflüge liegen hier wie vor der Tür, und so sieht man sich in der angenehmen Lage, Naturschönheit ohne jede Müh und Anstrengung genießen zu können. Daß es eine Schönheit kleineren Stils ist, schadet wenig. Ich bin oft genug bis 20 000 Fuß hoch umhergeklettert, um jetzt mit 2 000 vollkommen zufrieden, ja sogar eigens dankbar dafür zu sein. Ich liebe Weltreisen und möchte sie, wiewohl ich fühle, daß die Passion nachläßt, auch für die Zukunft nicht missen, aber ich bin andererseits kein Freund von Strapazen als solchen, und je bequemer ich den Kongo hinauf- oder hinunterkomme, desto besser. Ökonomie der Kräfte.
Doch was Kongo! Vorläufig heißt meine Welt noch Thale, ›Hotel Zehnpfund‹, ein wundervoller Hotelname, bei dem man sich, wie auf dem Bilde ›Wo speisen Sie?‹, förmlich arrondieren fühlt und der sofort die Vorstellung weckt: hier ist es gut sein.
Und diese Vorstellung täuscht auch nicht. Es ist hier in der Tat gut sein, appetitlich und unterhaltlich, letzteres besonders seit drei Tagen, wo sich, durch Eintreffen neuer Gäste, die Table d'hôte belebt hat. Unter diesen Gästen ist ein alter Emeritus, mit dem ich mich gleich anfänglich anfreundete, seit Dienstag aber hat er vor einer neuen Bekanntschaft einigermaßen zurücktreten müssen: Oberst St. Arnaud und Frau. Er, trotzdem er ›a. D.‹ ist (nicht bloß ›zur Disposition‹), Gardeoffizier from top to toe, sie, trotz eines languissanten Zuges, oder vielleicht auch um desselben willen, eine Schönheit ersten Ranges. Wundervoll geschnittenes Profil, Gemmenkopf. Ihre Augen stehen scharf nach innen, wie wenn sie sich suchten und lieber sich selbst als die Außenwelt sähen – eine Besonderheit, die, von Splitterrichtern, sehr wahrscheinlich ihrer Schönheit zum Nachteil angerechnet und mit einem ziemlich prosaischen
Namen bezeichnet werden wird. Es gibt ihr aber entschieden etwas Apartes, und wenn ihre Beauté wirklich Einbuße dadurch erfahren sollte, was ich nicht zugeben kann, so doch sicherlich nicht ihr Reiz. Sie verzieht mich ein wenig, und zwar in einer ganz eigentümlichen Weise, der ich Coquetterie nicht zuschreiben und auch nicht ganz absprechen kann. Ich stehe vor einem Rätsel, oder doch mindestens vor etwas Unbestimmtem und Unklarem, das ich aufgeklärt sehen möchte. Und dazu, meine liebe Clothilde, mußt Du mir behülflich sein. Du weißt ja den Genealogischen halb und die Rangliste ganz auswendig, hast das Offiziercorps Eurer berühmten Garnison eingetanzt und kennst die nachbarlichen Wahlstätter Kadettenlieutenants, die sich so ziemlich aus allen Provinzen rekrutieren. Du mußt also was erfahren können. Daß er mehrere Jahre lang ein Gardebataillon kommandierte, weiß ich; er hat sich gestern abend, als ich von einem Konzert mit ihm heimkehrte, selbst darüber ausgesprochen. Warum aber nahm er den Abschied? Warum zieht er sich augenscheinlich aus dem, was man Gesellschaft nennt, zurück?
Vor allem jedoch, wer ist Cécile? Dies ist nämlich ihr Name. Woher stammt sie? Brüssel, Aachen, Sacré cœur, so schoß es mir durch den Kopf, als ich sie zum ersten Male sah, aber dies alles war ein Irrtum. Ich finde, sie schlesiert ein wenig, und so wird es Dir, wenn ich darin recht habe, nur um so leichter sein, meine Neugier zu befriedigen.
Meine Neugier? Ich würde Dir von einem tieferen Interesse sprechen, wenn ich nicht fürchten müßte, diesen Ausdruck mißverstanden zu sehen. Sie hat offenbar viel erfahren, Leid und Freud, und ist nicht glücklich in ihrer Ehe, trotzdem sie dem Obersten, ihrem Gemahl, in einzelnen Momenten etwas wie Dank oder selbst wie Hingebung und Herzlichkeit zeigt. Aber es sind immer nur Momente, wo sie nach einem Halt sucht und diesen Halt in ihm zu finden glaubt. Also, wenn Du willst, eine Neigung mehr aus Schutzbedürfnis als aus Liebe. Mitunter auch aus bloßer Caprice.
Ja, sie hat Capricen, was an einer schönen Frau nicht sonderlich
überraschen darf, aber was durchaus frappieren muß, ist das naive Minimalmaß ihrer Bildung. Sie spricht gut französisch (recht gut) und versteht ein weniges von Musik, im übrigen fehlt ihr nicht bloß alles Positive, sondern auch jener Esprit, der adorierten Frauen fast immer zu Gebote steht. Wir waren gestern in Quedlinburg und kamen unter anderm an dem Klopstock-Hause vorüber. Ich sprach von dem Dichter und konnte deutlich wahrnehmen, daß sie den Namen desselben zum ersten Male hörte. Was nicht in französischen Romanen und italienischen Opern vorkommt, das weiß sie nicht. Ob sie Zeitungen liest, ist mir fraglich. Und so gibt sie sich Blößen über Blößen. Aber sie besitzt dafür ein andres, was all diese Mängel wieder aufwiegt: eine vornehme Haltung und ein feines Gefühl, will sagen ein Herz. Denn ein feines Gefühl läßt sich sowenig lernen wie ein echtes. Man hat es oder hat es nicht. Dazu gesellt sich jener freiere Blick oder doch mindestens jenes unbefangene, allem Schwerfälligen abgewandte Wesen, das allen Personen eigen ist, die jahrelang in der Obersphäre der Gesellschaft gelebt und sich einfach dadurch jenes je ne sais quoi erworben haben, das sie Gebildeteren und selbst Klügeren überlegen macht. Sie weiß, daß sie nichts weiß, und behandelt dies Manko mit einer entwaffnenden Offenheit. Trotz einer hautainen Miene, die sie, wenn sie will, sehr wohl aufzusetzen versteht, ist sie bescheiden bis zur Demut. Daß sie nervenkrank ist, ist augenscheinlich, aber der Oberst (vielleicht, weil es ihm paßt) macht unter Umständen mehr davon als nötig. Er mag übrigens, was diesen Punkt angeht, in einer ziemlich heiklen Lage sein, denn nimmt er's leicht, wo sie's vorzieht, krank zu sein, so verdrießt es sie, und nimmt er's schwer, wo sie's vorzieht, gesund zu sein, so verdrießt es sie kaum minder. Ich war auf der Roßtrappe Zeuge solcher Szene. Mir persönlich will es scheinen, daß sie, nach Art aller Nervenkranken, im höchsten Grade von zufälligen Eindrücken abhängig ist, die sie, je nachdem sie sind, entweder matt und hinfällig oder aber umgekehrt zu jeder Anstrengung fähig machen. Überhaupt voller Gegensätze: Dame von Welt und dann wieder voll Kindersinn.
Sie lacht wenig, aber wenn sie lacht, ist es entzückend, weil man herausfühlt, wie dieses Lachen sie selber beglückt. Sie war wohl eigentlich, ihrer ganzen Natur nach, auf Reifenwerfen und Federballspiel gestellt und dazu angetan, so leicht und graziös in die Luft zu steigen wie selber ein Federball. Aber es wird ihr von Jugend an nicht daran gefehlt haben, was sie wieder herabzog. Vielleicht weil sie so schön war. Übrigens glaube nicht, daß ich an eine St. Arnaudsche Mesalliance denke. Nichts in und an ihr, das an eine Tochter Thaliens oder gar Terpsichorens erinnerte. Noch weniger hat sie den kecken Ton unserer Offiziersdamen oder den unmotiviert selbstbewußten unseres Kleinadels auf seinen Herrensitzen. Ihr Ton ist vornehmer, ihre Sphäre liegt höher hinauf. Ob von Natur oder durch zufällige Lebensgänge, laß ich dahingestellt sein. Sie hascht nach keinem Witzwort, am wenigsten müht sie sich um ein zugespitztes Repartie, sie läßt andre sich mühen und zeigt auch darin, daß sie ganz daran gewöhnt ist, Huldigungen entgegenzunehmen. Alles erinnert an ›kleinen Hof‹.
Und nun tue das Deine. Deiner Antwort sehe ich noch hier entgegen, und zwar binnen einer Woche. Wird es später, so nach Berlin poste restante. Zu ›postlagernd‹ hab ich mich noch nicht bekehren können. Und nun Dir und meiner teuren Elsy Gruß und Kuß. <closing>Wie immer Dein Dich herzlich liebender
Robert v. G. L.«</closing>
Zehntes Kapitel
Gordon überflog den Brief noch einmal und war mit seiner Charakteristik Céciles zufrieden, aber nicht so mit dem, was er über St. Arnaud geschrieben hatte. Der war offenbar zu kurz gekommen, was ihn bestimmte, noch ein paar Worte hinzuzufügen.
<opening>»Eben, meine liebe Clotho«</opening> (so kritzelte er an den Rand), »hab ich mein langes Skriptum noch einmal durchgelesen und finde, daß St. Arnauds Bild der Retouche bedarf. Es wird dadurch freilich mehr an Richtigkeit als an Liebenswürdigkeit
gewinnen. Wenn ich ihn Dir als Gardeoberst comme il faut vorstellte, was zutrifft, so gibt dies doch immer nur eine Seite; mindestens mit gleichem Rechte darf ich ihn als den Typus eines alten Garçons aus der Oberschicht der Gesellschaft bezeichnen. Es ist unmöglich, sich etwas Unverheirateteres vorzustellen als ihn, trotzdem er voll Courtoisie gegen die junge Frau, ja gelegentlich selbst voll anscheinend großer Aufmerksamkeiten ist. Aber sie wirken äußerlich, und wenn sie nicht bloß in chevaleresker Gewohnheit ihren Grund haben, so doch jedenfalls zur größeren Hälfte. Zu dem allem hat er (in diesem Punkte mit Cécile verwandt) einen ›genierten Blick‹; aber was ihr kleidet, ja, rundheraus, ihren Reiz noch steigert, ist an ihm einfach unheimlich. In manchen Momenten, ich zögere fast, es auszusprechen, wirkt er nicht viel anders, als ob er ein Jeu-Oberst wäre, der hier in Thale den Gemütlichen spielt und seine Kräfte für eine neue Kampagne sammelt. Jedenfalls wirst Du nach dem allen meine Neugier begreifen. Und nun noch einmal Gott befohlen.
<closing>Dein Roby.«</closing>
Und nun schob er den Brief ins Couvert und ging in das Lesezimmer, um sich in die »Times« zu vertiefen, die zu lesen ihm, seit seinen indisch-persischen Tagen, ein Bedürfnis war.
Um dieselbe Stunde, wo Gordon den Brief schrieb, machte das St. Arnaudsche Paar, wie täglich nach dem Frühstück, seinen Morgenspaziergang. Als sie die große Parkwiese zweimal umschritten hatten, war Cécile müde geworden und nahm auf einer von Flieder und Goldregen überwachsenen Bank Platz, die zum großen Teil im Schatten lag. Es war eine lauschige Stelle, vormittags die schönste der ganzen Anlage, von der aus man nicht bloß die vorgelegene bewaldete Gebirgswand, sondern auch den Hexentanzplatz und die Roßkappe mit ihren in der Sonne blitzenden Hotels übersehen konnte. Die Luft stand, und nur dann und wann fuhr ein Windstoß durch die Stille.</extract>
<extract>Größenwahn von Karl Bleibtreu
Uebrigens sprach Mrs. O'Donnogan ziemlich geläufig Deutsch, da sie natürlich in jedem Punkte à la mode bleiben wollte. Auch betrachtete sie den Oesterreichischen Hauptmann und Grafen mit aufmerksam neugierigen Augen, als Lord Dorrington etwas ironisch auf dessen verstohlenes Dichterthum anspielte.
»Ja, er ist ganz weg!« neckte der freundliche alte Herr, als er am Abend zum Dinner seiner Gattin ihren Neffen und dessen Abenteuer mitgebracht hatte. »Unsre Irische Freundin hat ihn captivirt. Sein kugelfestes Herz steht in Flammen.«
»Ich kann nicht leugnen,« bekannte Krastinik unbefangen lachend, »daß ich sie reizend finde. Dieses goldige Haar! Charming! O die süße englische Sprache! Sie allein drückt aus, –«
»Was Sie empfinden?« Lady Dorrington erhob sich nach englischer Sitte, um die Herrn bei der Weinkaraffe allein zu lassen und oben im Drawing Room den Thee zu bereiten. »Goldiges Haar? Man denke! Ja, bei 3000 Pfund Rente findet sich das Goldige von selbst. Eh bien, lieber George, sage unserm Freunde doch, was ich darüber denke. – Wissen Sie was, lieber Xaver? Zeigen Sie doch mal Ihre poetische Geschicklichkeit! Sie schildern so feurig die Hunde- und Katzen-Verliebtheit der schönen Frau. Machen Sie darüber einen Vers und –« flüsterte sie ihm halblaut ins Ohr, als er aufspringend ihr chevaleresk die Thüre öffnete, »schicken Sie ihr's.«
»Aber, gnädige Tante!«
»Das heißt,« fügte sie schelmisch drohend hinzu »daß Sie ja nie verrathen, ich hätte das empfohlen!«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
<opening>»Madam,</opening>
Es ist stets gefährlich, wenn man einem Reimer den leisesten Wunsch ausspricht, seine Verse sehen zu wollen. So sind wir, nous autres rimeurs! Reicht man uns den Finger, nehmen wir die ganze Hand. Der arme Herzog Clarence verlangte ein Gläschen Malvasier und wurde in ein Faß gesteckt.
Sie sahen sich genöthigt, den Wunsch aussprechen zu müssen, daß eine Probe meiner Stümperei Ihren schönen Augen unterbreitet werde. Me voilà! Da marschiren schon acht Verszeilen heran, um Ihnen zu huldigen. So bekommen Sie einen bittern Vorgeschmack der Lieder, die Ihrer vielleicht noch harren. Seien Sie mir nicht allzuböse, wenn ich Ihre Geduld auf eine so harte Probe stelle. Lady Dorrington würde mich schön auszanken, wenn sie erführe, wie ich wegelagere. Unsereins stürzt sich eben auf jeden Leser, der Herzensgüte genug besitzt, um gereimte Ungereimtheit zu ertragen.
Aber ich sehe, daß meine Weitschweifigkeit sich sogar auf diesen Brief ausdehnt. So gestatten Sie mir denn die Versicherung, daß mein schlechtes Gedicht wenigstens den einen Vorzug besitzt, ebenso aufrichtig und wahr zu sein, als die Verehrung, mit der ich bin
<closing>Ihr ergebener Diener
Graf Xaver Krastinik.«</closing>
Das beigelegte Impromptu lautete:
Circe hat ein Thier einst verwandelt
Männer, ihre Liebesglut zu kühlen.
Minder grausam zwar hast du gehandelt,
Lässest Thiere menschlich für Dich fühlen.
Doch wo Thiere selber lieben müssen,
Laß uns, Grausame, ihr Glück nicht schauen.
Daß es Thieren nur erlaubt zu küssen,
Kann kein neidisch? Mannesherz erbauen.
Es war sogar eine Uebersetzung in denkbar unbeholfenstem Englisch zugefügt:
Circe changed men, who dared speak of love,
To animals once with her magic staff.
Less cruel indeed your witcheries prove,
When your beauty's enchanting cup we quaff.
u.s.w.
<opening>»Geehrter Herr,</opening>
Ich bin morgen Mittag at home. Einige Freunde nehmen bei mir ihr Lunch. Vielleicht werden wir den Vorzug Ihrer Gegenwart haben? Sie sind freundlichst geladen.
<closing>Ihre ergebene
Ellinor O'Donnogan.</closing>
P.S. Dank für die hübschen Verse.«
Das Lunch bei der Tochter Grün-Erins gewann einen etwas abenteuerlichen Anstrich durch die stark gewürzte
Mischung der Gesellschafts-Pastete. Da war eine fettige süddeutsche Sängerin, die sich einen italienischen Namen zugelegt hatte.
Da war ein kleiner Franzose mit endlosem Henri-Quatre, der trotz eines halbjährigen Aufenthalts in London nur die Phrase »Fifteen years ago!« gelernt hatte und, als der Name »Bulwer« fiel, sofort von »Boulevard« zu plappern anfing.
Da war ein jugendlicher Plantagenbesitzer aus Cuba, der jedem Unglücklichen, mit dem er nur drei Worte gewechselt, die echtesten der echten Havannas meuchlings auf die Brust setzte – eine Magnaten-Großmuth, welche der davon Betroffene meist verfluchte, sobald er drei Züge des kostbaren Gewächses gekostet. Doch Don Rosetta's Etui ward niemals leer und füllte sich wie eine Cisterne aus unbekannten Tiefen.
Da war ein deutscher Maler, nicht ohne ein gewisses Sedan-Lächeln, das den Reserveoffizier verrieth, welcher nichtsdestoweniger aus seiner tiefen Verachtung gegen alles Deutsche kein Hehl machte.
Da war der unvermeidliche junge Musiker jüdisch-slavisch-deutscher Herkunft, wie er blaßwangig und schwarzlockig in den Londoner Drawing-Rooms schwarmgeistert.
»Er ist ein Bohemian,« stellte ihn die patronisirende Wirthin mit zweideutigem Wortspiel dem Grafen vor. (»Bohemian« bedeutet ja englisch sowohl »Böhme« als »Bohémien« in der Pariser Bedeutung des Wortes.) »Und Sie, Graf, Sie sind ja auch ein Böhme, nicht? Das sind wir ja drei Böhmen! Denn ich, ich bin eine
richtige Bohemienne, ich liebe die Freiheit, die Bohême!«
Dabei rümpfte sie das aristokratische Adlernäschen und äugelte mit unbeschreiblichem Dünkel durch ihr Lorgnon, indem sie mit den drei Gardeoffizieren tändelte, die außer einem dicken Parlamentsmitglied den Rest der Gesellschaft bildeten.</extract>
<extract>Im Reiche des silbernen Löwen von K. May
Ich muß vorausschicken, daß mein wackerer Halef inzwischen oberster Scheik der Haddedihn-Araber geworden war, und daß die Achtung, welche er sich erworben hatte, im umgekehrten Verhältnisse zu seiner Körpergröße stand. Er war bekanntlich von sehr kleiner und schmächtiger Gestalt und außerordentlich stolz auf seinen Schnurrbart, von dem er in aufrichtigen Augenblicken allerdings der Wahrheit gemäß zugab, daß diese »Zierde seines Angesichtes« aus dreizehn Haaren bestehe, nämlich sechs rechts und sieben links. Aber sein Mut und seine Tapferkeit waren über jedem Zweifel erhaben, und in Beziehung auf seine Anhänglichkeit zu mir hätte ich sehr oft nicht sagen können, wen er mehr liebe, mich oder sein Weib Hanneh, welche er »die lieblichste Blume unter allen Rosen der Frauen und Töchter« zu nennen pflegte.
Hatte er schon mündlich eine ganz eigene, mehr als orientalisch blumenreiche Art, sich auszudrücken, so waren die Briefe, welche ich während der Trennungspausen von ihm erhielt, noch viel interessanter. Wir schrieben uns nämlich zuweilen, doch auf ziemlich erschwertem Wege. Ich schickte meine Briefe nach Mossul, wohin er dann und wann einen seiner Beduinen sandte, um anzufragen, ob ein Schreiben von mir angekommen sei; nach Monats- oder gar Jahresfrist schickte er dann seine Antwort ebendorthin; er mußte ja warten, bis sein Stamm sich einmal in der Nähe dieser Stadt befand, und so kam es, daß unsere Korrespondenz keineswegs an dem Fehler großer Uebereilung litt. Um so origineller aber war dann, wenn er einmal schrieb, der Inhalt seiner Briefe, und ich darf wohl sagen, daß der letzte, den ich damals von ihm bekam,
der köstlichste von allen war. Ich hatte ihm drei Vierteljahre vorher mitgeteilt, daß ich nach Persien wolle und auf dem Wege dorthin die Weideplätze seines Stammes aufsuchen werde. Hierauf antwortete er mir, indem er sich des ihm eigentümlichen Gemenges von Arabisch und Türkisch bediente, welches ich natürlich ins Deutsche übertrage:
»Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar, an Emir Hadschi Kara Ben Nemsi Effendi, seinen Freund.
<opening>Gruß! Ich liebe Dich! Nochmals Gruß!</opening>
Dein Brief, oh Effendi, kam grad während des Gebetes des Asr bei mir an. Dank! Gnade! Anhänglichkeit! Mir scheint die Sonne, denn Du hattest genug Tinte, mir zu schreiben. Freude überall; Hamdulillah! Sei unverzagt; ich schreibe sofort wieder! Oh Feder! oh Tinte! Sie ist vertrocknet. Ich schicke nach Wasser und schütte es hinein! Sie wird wieder weich und dünn! Maschallah! Die Schrift ist sehr blaß, aber Du kannst sie dennoch lesen, denn Du bist der Gelehrteste aller Gelehrten des Morgen- und des Abendlandes. Ich beschwöre es! Hanneh, mein Weib, die schönste der Blumen unter allen Frauen, duftet grad noch so wie vor mehr als zehn Jahren. Du hast keine. Allah erbarme sich Deiner! Kara Ben Halef, mein Sohn, der Deinen Namen trägt, ist schon beinahe klüger als sein Vater; er wird mich wohl noch überholen. Des freut sich meine Seele; dennoch rufe ich: oh wehe, wehe! Meine Herden wachsen, und mein Zelt vergrößert sich. Oh Geld, oh Reichtum, oh Kamele, Pferde, Schafe, Ziegen und Lämmer! Ist's bei Dir ebenso? Ist Deine Milch fett und dick? Oder sind die Früchte Deiner Datteln wurmstichig?
Dann taugen sie nur als Futter für das Vieh. Oh Armut, oh Sorge und Verderben! Wie wächst das Gras in Dschermanistan? Sind Deine Zelte dicht? Wo nicht, so flicke sie! Ein kleines Loch wird sehr schnell ein großes Loch. Oh Wind, oh Regen, ihr sollt ja nicht hinein! Wir haben Vollmond; was hast Du? Fliehe die Laster, denn sie vermehren sich wie die Ameisen in der Steppe! Gieb Deinen Kamelen nicht zu viel Futter, und erziehe sie zur Geduld. Deine Pferde laß im Freien schlafen; Deine Lieblingsstute aber nimm in das Zelt hinein! Oh Nacht, oh Tau, ihr schadet ihr! Hüte Dich vor der Erkältung und vor der Sünde! Beide töten, die eine den Leib und die andere die Seele, und in beiden Fällen wäre es jammerschade um Dich. Glaube es mir, denn ich bin Dein Freund und Beschützer! Deine Gedanken sind in Persien, die meinen auch, denn ich reite mit. Wie könnte ich Dich allein reiten lassen, oh Effendi! Ich will wieder mit Dir leben und wieder mit Dir sterben. Komm! Ben Rih, das herrlichste der Pferde, soll Dich tragen. Sein Vater war Dein Eigentum; Du hast ihn mir geschenkt; so nimm nun jetzt den Sohn dafür, und gieb ihn mir dann wieder! Sieh, wie ich Dich liebe und verehre: Ich begann diesen Brief am dritten Tage des Monates Tischrihn el Auwal und vollende ihn heut am neunten Tage des Monates Kanun el Tani; das sind mehr als drei Monate; so große Stücke meines Herzens sind Dein Eigentum! Wenn Du gekommen bist, schreibe ich nicht, sondern sage Dir mehr. Habe Geduld mit Deinem Stamme, doch sei streng mit dem Munde alter Weiber; dann wirst Du weise regieren und Ruhm und Ehre ernten! Verliebe Dich nicht in Deine Fehler, sonst wachsen sie heran zu Löwen, welche Dich zerreißen werden! Trinkst Du noch immer Wein? Oh Muhammed!
Er hat ihn ja verboten! Du aber bist ein Christ, und ich soll dem Kuran gehorchen; aber wenn Du welchen bringst, so trinke ich ihn mit! Oh Hochgenuß, oh Wonne! Wir erwarten Dich schon von morgen an. Das Schaf mit dem fettesten Schwanze ist bereit, für Dich geschlachtet zu werden, sobald Du bei uns erscheinst. Es freut sich dieser Ehre. Schnalle nie den Sattel locker; er rutscht mit Dir hinab! Oh Bruch der Arme, Beine und der Rippen! Hanneh, die herrlichste der Frauen unter den Weibern, hat nichts dagegen, daß ich mit Dir reite. Sie wird immer schöner. Oh Glück, oh Segen, oh Ehestand! Werde ja nicht krank! Ich beteuere Dir, daß dies der Gesundheit schadet, denn ich bin Dein wahrer Freund! Gehe nicht unter die Ungläubigen und Lästerer, sondern nimm Dir ein Beispiel an denen, welche durch dich auf den richtigen Weg geführt worden sind. Nun ist heut der vierte Tag des Monates Nisahn; der Brief ist also noch drei Monate länger geworden. Oh Länge der Zeit, oh Zahl der vielen Tage! Wasche Dich täglich fünfmal, bei jedem Gebete einmal, und hast Du kein Wasser, so nimm einstweilen Sand! Oh Sauberkeit des Körpers, oh Reinlichkeit der Seele! Wir lagern in der Nähe von Qalat Scherkaht und ziehen bald nach Westen; darum sende ich den Boten nach Mossul. Sei frühzeitig munter, denn das Morgengebet ist besser als der Schlaf! Bring Deine berühmten Gewehre mit, und komm sobald wie möglich! <closing>Gruß, Achtung, Liebe, Verehrung und Ermahnung von Deinem Freunde und Beschützer
Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas
Ibn Hadschi Dawud al Gossarah.«</closing>
Mein Schreiben, auf welches diese Antwort erfolgte, hatte monatelang in Mossul gelegen, ehe es abgeholt
worden war, und während Halef dann sechs volle Monate gebraucht hatte, um im Schweiße seines Angesichtes den obigen Brief zu Ende zu bringen, war ich schon am Tigris angekommen. Nachdem ich mich lange vergeblich erkundigt hatte, erfuhr ich endlich, daß die Haddedihn jetzt in der Nähe des Dschebel Chonuka zu suchen seien, und machte mich dorthin auf den Weg. Das war kein ganz ungefährliches Unternehmen, weil ich grad in dieser Richtung den Feinden des genannten Stammes begegnen konnte und, wenn sie mich erkannten, darauf gefaßt sein durfte, mein Leben gegen sie verteidigen zu müssen. Ich war ganz allein, und das Pferd, welches ich ritt, taugte nicht viel; ich hatte kein teures gekauft, weil ich wußte, daß Halef eine Ehre darin suchen werde, mich gut beritten zu machen.</extract>
<extract>Die Akten des Vogelsangs von W. Raabe
Velten schrieb:
<opening></opening>
„Sie haben sie uns genommen, Mutter, und
sind völlig in ihrem Recht, da sie das nach ihrer
Meinung beste Theil für sie gewählt haben. Ich
habe sie verloren; aber diesmal bin ich nicht schuld
daran, das Glück der Erde verpaßt zu haben. Du
weißt, wie oft man mir das bei Euch zu Hause
aufzuriechen gab, und, wenn die beleidigte Nase
darob nicht lief, wie die eines geschlagenen Schuljungen, sondern sich nur trocken-tückisch krauste,
nicht nur von allen Schlechtigkeiten menschlichen
Charakters, sondern auch von absoluter, bodenloser, randundbandloser Charakterlosigkeit sprach.
Ich habe das Meinige gethan, durch Stunden,
Tage, Wochen, Monate und Jahre, bei Tag und
Nacht, bei Allem, was ich gethan, überdacht und
gedacht habe, den schönen Schmetterling für mich
— für uns festzuhalten: nun stehe ich wieder
wie ein Schuljunge, und besehe an den Fingern
den bunten Farbenstaub von den Flügeln des
entflatterten Buttervogels und denke vor Allem
an die alte Frau zu Hause, die da sitzt
und sich fragt: Was für eine Nase wird er
diesmal machen? — Mutter, mein — unser
liebes armes kleines Mädchen, was würde dem
jetzt mit einem zerfließenden Liebhaber gedient
sein? Also — trocken überschlucken und ein Kreuz
über eine närrische Lebensepoche ziehen, wie über
eine Kalenderwoche, die bis Donnerstag im Sonnenschein lag und am Freitag in einen Landregen
überging! Unserm lieben Wildfang gebe ich gar
keine Schuld; — kann man überhaupt einem
Menschenkinde Schuld an seinem Schicksal geben?
Was kann die Lerche gegen den Spiegelblitz, der
sie aus der blauen Luft in die Versandtschachtel
und die Bratpfanne holt? Mit ihrem tückischen
Glanz haben sie auch unser liebes Singvögelchen
aus dem Vogelsang hernieder in ihr Netz stürzen
machen und ihr nicht nur das arme, dumme, kleine
Schädelchen und Gehirnchen, sondern auch das
schöne weite Herz eingedrückt. Sie wird eine stattliche Mistreß Mungo: die Nadel der Kleopatra,
jetzt im hiesigen Centralpark, die doch schon in
Ägypten viel gesehen hat, und hier im Lande täglich
auch noch manches sieht, sah nimmer ein schöneres,
vornehmeres Weib an sich vorbei und durch ihren
Schatten gleiten. So wächst das immer aus dem
Schlamm empor, einerlei ob am Nil oder am
Hudson! Mir fehlen wieder mal die Knöpfe am
Hemdärmel, alte Mutter zu Hause; aber Elly wird
sie mir nicht annähen, worauf wir doch so fest
gerechnet und des Lebens Seligkeit vom Vogelsang aus gegründet hatten; und das erinnert mich
nun gerade erst recht an Deinen alten Nähtisch,
auf dem dieser Brief, wenn der Ocean ihn nicht
verschlingt, demnächst liegen wird und erinnert mich
an Deinen Sessel dabei und das leere „Schawelche“
daneben und den Blick durch die Epheuranken,
über den Garten weg, auf den Nachbar Hartleben
und sein Anwesen (Strohwittwe Trotzendorff und
Töchterlein eingeschlossen) hinein in den ganzen
Vogelsang, und — ich bin wieder allein auf die
alte Frau im Korbsessel an dem Fenster angewiesen
und ein Vagabund — ein Wanderer im Leben —
zerlumpter denn je. In die hiesigen Verhältnisse
habe ich mich übrigens eingelebt, daß ich meinen
jüngsten Freunden keinen Grund zur Verwunderung
mehr gebe. Wünschest Du mich auch als Millionär
wiederzusehen wie Mr. Charles Trotzendorff? Oder
ziehst Du den deutsch-amerikanischen Staatsmann,
Muster: Karl Schurz, vor? Meine Vogelsangstudien im Englischen, unserer Kleinen zuliebe,
kommen mir jetzt wundervoll zu statten. Die
Phrasen und den Tonfall um eine „Mäh“ jauchzende Menschenansammlung zum „Bäh“ jammern
zu bringen, und das politische Thier, Mensch genannt, mit einem Strick durch die Nase oder um
den Hals, für Klios ewige Tafeln und vergänglichen Griffel als notirungswerth zu dressiren, lernt
sich bald. Sollte Freund Krumhardt, ich meine
unser Karlchen — nicht den Alten, aus seiner Geschäftspraxis demnächst mal einen neuen edlen
Kinkel nebst Spulrad und Märtyrerglorie in der
lieben Heimath für einen überseeischen Heros-Befreier zur Verfügung haben, so reflektire ich darauf
und bitte, aus guter alter Kameradschaft mir die
Vorhand zu lassen. Eine republikanische Bürgerkrone für einen Märtyrer aus dem neuen deutschen
Reich! Das Ding wird leider schwer zu finden
sein, denn den alten wahren Otto den Schützen von
seinem Wergzupfen und Wollespulen im Reichstage
zu entführen, würde ihm doch selber auch jetzt noch
nicht recht in die gelbweiße Kürassiermütze passen.
Aber wie sang Fräulein Leonie des Beaux in der
Dorotheenstraße zu Berlin?
Je ne dors ni ne veille;
Cet enfant me réveille.
Da bin ich wieder bei meinem in der Fifth
Avenue verzauberten armen Mädchen! Siehe
Goethes Epilog zu dem Trauerspiele Essex:
<closing>Hier ist der Abschluß! Alles ist gethan
Und nichts kann mehr geschehn! Das Land, das Meer,
Das Reich, die Kirche, das Gericht, das Heer,
Sie sind verschwunden, alles ist nicht mehr!</closing>
Ja, ja, was nimmt man sich Alles vor zu
Glück und Ruhm und zum Besten der Welt in der
Welt, bis der Narrenkönig dem diese Welt gehört
— siehe Schillers Jungfrau von Orleans — Einem
das Bein stellt und alle Weisen, Helden und weggelaufenen Schuljungen auf die Gefühle eines Zahnarztes, der selber Zahnweh hat, hinunterdrückt! Du
weißt es, Mutter, und kannst es mir bezeugen,
daß die Scheu der Leute, sich vor der Menschheit,
das heißt den Nächsten ihresgleichen lächerlich zu
machen, mir leider immer nur zu sehr gemangelt
hat; aber die Sehnsucht, mir selber endlich einmal
wieder lächerlich vorzukommen und somit das richtige Maaß für die Dinge dieser Erde wieder zu
gewinnen, ist mir bis jetzt auch nicht in solcher
Fülle und Üppigkeit zu theil geworden. Zu Hause
im Vogelsang, würde das wohl noch am leichtesten
zu erreichen sein, Deinem lieben Korbstuhl gegenüber und mit des seligen Vaters geliebter ersten
Originalausgabe des Wandsbecker Boten auf
Deinem Nähtische und mit der einzigen Aussicht
über Deine Buchsbaum- und Blumenbeete, meine
Stachelbeerbüsche und unsere grüne Hecke, auf den
Nachbar Hartleben und sein Anwesen. Da ginge es
wohl noch am leichtesten an, dem theuren Ahnherrn
in dem Buche, dem Vetter Andres und dem braven
Vetter Michel im eigenen Busen sein Recht wiederzugeben;</extract>
<extract>Felicitas von F. Dahn
Bevor Zeno antworten konnte, klirrten Waffen und schwere Schritte und ein Zug von den Isauriern des Tribuns bog um die Ecke. Der Centurio eilte auf den Kaufmann zu: »Dich such' ich! Von deinem Hause wies man mich hierher, zum Richter. Lies! – Vom Tribun.« Zeno nahm das Wachstäfelchen an sich. »Offen?« frug er mißtrauisch. »Für uns gesiegelt,« lachte der Soldat. »Wir lesen nicht: wir schlagen nur.« Zeno las: »Es war nur das Knie. Mein griechischer Sklave hat mich geknetet, morgen steig' ich wieder zu Roß. Das Dreifache, schaffst du morgen das Weib.« Der Grieche tauschte einen raschen Blick mit dem Richter –: dann drückte er mit der Rückseite des Griffels das Geschriebene platt, wandte den Griffel und schrieb: <opening></opening>»Der Priester allein weiß, daß sie freigelassen. Sonntag spricht er den Bann über dich. Tote Hunde bellen nicht.« »Bring das deinem Tribun,« winkte er dem Centurio. »Ich kann nicht: – ich ziehe auf Wache ans vindelicische Thor. Aber hier, Arsakes, geht zurück aufs Kapitol.«<closing></closing> – Er gab das Täfelchen einem der Söldner; der neigte sich und verschwand.
»Ans vindelicische Thor? Warte noch!« Und Zeno flüsterte dem Richter ein Wort zu. »Halt, Centurio!« rief dieser. »Ich habe meine Carcerarii nicht zur Hand –: im Notfall darf ich über euch Krieger verfügen, nach des Kaisers Diokletian Reskript. Ergreife diesen fluchtverdächtigen Schuldner des Kaisers und führe ihn in den Thurm für die Steuerschuldner: er steht neben dem vindelicischen Thor.« Fulvius war im Augenblick umringt –: der Centurio legte die Hand auf seine Schulter, vier Mann ergriffen seine Arme. »O Felicitas!« seufzte der Wehrlose. »Ich rette sie! ich fliege hinaus!« schrie Crispus und eilte davon.</extract>
<extract>Liebesmühen von I. Frapan
Er sah sich nach einem Schreibgeräth um, riß einen Zettel aus seinem Taschenbuche und schrieb darauf:
<opening>„Mein hochverehrtes Fräulein!</opening>
Ehe Sie erwachen, eile ich davon. Nie habe ich herrlicher geschlafen, als auf ihrem kurzen Sopha, und den Eindruck einer unbeschreiblichen Güte Ihres Wesens nehme ich mit fort. Ich fühlte mich nach Indien oder Arabien oder in eine brasilianische Hazienda versetzt,
so wenig war mein Eindringen hier und Ihre Gastfreundschaft im Stil unseres alten Europas.
<closing>In Dank und Verehrung
Ihr
Doktor Rich. Hausdörffer.“</closing>
Einen Vers, der ihm noch in halber Schlaftrunkenheit ums Ohr gesummt hatte, schrieb er ebenfalls auf, doch getraute er sich nicht, ihn auf den Tisch zu legen. Er befestigte das Blatt mit einer Nadel an dem ersten Fichtenstamm vor der Hausthür und schritt dann träumerisch und noch mehrmals umblickend über die nassen moosigen Matten hinweg; auf dem Kreuz oben auf der Kirchthurmspitze funkelte der erste weinerliche Morgenstrahl. – – –</extract>
<extract>Die Opferschale von
Graf Leuckmer las seine Zeitung nicht mit jener Aufmerksamkeit, die der erregungsschwere Augenblick der politischen Lage wohl beanspruchen konnte. Er hatte bemerkt, daß der Brief, den Karen erhielt, die Handschrift seines Sohnes trug. Nun beschäftigte ihn die Besorgnis, daß die junge Frau wieder einmal peinliche Eindrücke niederzuringen haben würde. Quelle heiterer Stimmungen waren die Briefe seines Sohnes nie. Er beobachtete das Gesicht der Lesenden. Und das fühlte sie wohl. Plötzlich, aus Nachdenken auffahrend, hob sie die Stirn und sah ihren Schwiegervater klaren Blickes an.
»Soll ich dir den Brief vorlesen?« fragte sie.
Wie viel einfacher wäre es gewesen, das Blatt ihm hinüberzureichen. Das tat sie aber nicht. Ahnungsvoll fürchtete der alte Herr, daß sie beim Vorlesen hier und da ein allzu häßliches Wort mildere.
»Wenn der Inhalt mir mitbestimmt ist…« meinte er zögernd. Und da war ja auch das Kind. Kinder haben so merkwürdig helle und gedächtnisscharfe Ohren. Das wußte ja auch die junge Mutter, erinnerte sich gut aus der eigenen Kindheit, daß ihr Äußerungen und Worte ihrer Eltern nach Jahren wieder eingefallen und dann erst richtig verstanden worden warm. Sie ließ einen nachdenklichen Blick über ihren Jungen gleiten. Der aber erklärte gerade froh und wichtig: »Nu will ich rund um die Schüssel 'nen kleinen Wald stecken, daß sie Schatten kriegen, darf ich was abpflücken?«
Und er war schon bei den Zwergrosenbüschen vor den alten Ulmenstämmen und wählte auf das sorgsamste kleine Zweige aus, die seinem Zwecke passen mochten. Zum Horchen hatte er durchaus keine Zeit. Und so konnte die blonde Frau lesen, sie tat es mit ruhevoller Stimme. Die Anrede ließ sie fort. Immer verletzte es ihr Gefühl, daß diese liebkosende Apostrophierung aus der allerersten, ganz kurzen Zeit ihres Scheinglücks von ihm beibehalten wurde. Das war eine Sinnlosigkeit, eine Gleichgültigkeit, die keine Achtung mehr vor dem kurzen Traum von damals hatte. Sie schloß die Augen vor diesem zärtlich spielerischen Anruf, nicht einmal mit ihren Gedanken mochte sie das noch aussprechen – <opening>»Süßes Pusselchen!«</opening> – Ihr ganzer Stolz bäumte sich dagegen auf. Und seit sie einmal ein Zettelchen von der Hand ihres Mannes gefunden, auf welchem er genau diese selbe zärtliche Anrede an eine andere Frau richtete, war sie ihr wie ein Peitschenhieb… Aber voller Haltung ging sie darüber hin.
»Mein eheherrliches und väterliches Gewissen ist etwas schadhaft geworden. Aber Du bist ja ein Engel, und Verzeihen ist sozusagen Dein Metier. Also vielmals pardon, daß ich seit unserer Trennung noch nicht einmal zum Schreiben kam. Erstens: fabelhaft viel Dienst. Zweitens: Tante Jenny. Es geht ihr besser. Ganz entschieden. Rund um ihr Bett hängen sozusagen die grünsten Hoffnungsflaggen. Sie läßt sich mit Radium behandeln und sieht sich schon genesen. Und so kann es ja doch noch kommen, daß sie mich überlebt und die adeligen Fräulein von Kloster Mürow, die so schon im Golde ersticken, auch noch Tanke Jennys gefüllte Strümpfe, respektive ihr Bankdepot in ihren Geldschrank übersiedeln sehen. Besonders nämlich darum, weil das Radium einerseits und die brenzliche europäische Lage andererseits zweckvoll zusammenarbeiten könnten.
Nämlich im Kasino, bei Tisch, schwört alles: Es gibt Krieg. Endlich und wirklich und wahrhaftig. Auch sonst ist man schwer ernst gestimmt. Im Regiment sind ja ein paar Herren mit hohen und allerhöchsten Beziehungen und Vetternschaften. Die meinen, sie wissen Bescheid. Aber bei so was weiß kein Mensch Bescheid, außer S.M. und dem Kanzler. Ich glaube nicht daran. Ich glaub' bloß, was ich sehe. Und ich sehe: das englische Geschwader machte uns in Kiel einen Freundschaftsbesuch. Und ich sehe: S.M. in der Kieler Woche. Unmöglich, daß da in der Politik was sengerig ist. Und man hört, daß die Nordlandreise, wie gewohnt, angetreten wird. Rußland! Ach nee. So 'ne Verrücktheit. Das Land der Fürstenmorde und Nihilistenattentate sollte ausgerechnet wegen dieser Mordsgeschichte Serbien gegen Österreich schützen wollen? Kann es ja gar nicht. Aber all die Geschichten lest ihr beim Morgen- und Nachmittagstee, zu dem nu mal Druckerschwärze als Zukost gehört. Ich erwähne das nur, um zu sagen: komisches Gefühl wär's ja nun doch: Krieg! Freue mich des Lebens viel zu gründlich – wenn's auch mit allerlei Unzulänglichkeiten behaftet ist – wozu ich in erster Linie mein nicht sicher fundiertes Budget rechne – als daß ich ins Gras beißen oder gar als Krüppel nachher vom dankbaren Vaterland bemitleidet sein möchte. Wenn auch die Gewißheit unbestreitbar ist, daß nicht jede Kugel trifft.
Ich wollte sagen: es wandelt einen doch allerlei an bei der Möglichkeit. Und dann Tante Jennys Testament! Das Dich und unsern Jungen ausschließt. Mein Himmel, sie haßt Dich nun mal in dem Grade, wie sie mich liebt. Sie müßte ihr Testament ändern! Das wird mir klar. Wenn ich an den Krieg denke, wachen doch allerhand Vatergefühle in mir auf. Aber bringe mal einer verliebten alten Schachtel, die gerade auf Genesung hofft, zart bei, daß sie ihr Testament zugunsten des Sohnes einer Rivalin ändern möge! Wenn das Wort Rivalin hier nicht als Jux wirkt. Ich maikäfere auf der Idee herum, wenn mein Alter ihr mal schriebe! Schließlich ist er doch ihr Bruder.
Das alles eilt ja aber nicht. Denn mit der Wirkung des Radiums wird es wohl fixer gehen als mit der politischen Entwicklung. Wenn wir da mit hineingerissen werden, so wird das Unheilsei sicherlich in den Brutkästen der Diplomatie mit höchster Langsamkeit ausgebrütet werden. Man wird also Zeit haben, meine Idee mündlich zu besprechen. Gudas Hochzeit sollte doch so was Mitte Sommer sein? Teilt mir gefälligst den Termin mit. Möchte doch Urlaub nehmen; wenn auch bloß auf drei, vier Tage. Länger hält es Tante Jenny nicht aus, wo sie schon ohnehin die Tage zählt, die mein Berliner Kommando dauert. Das wird Dir ja auch recht sein, denn allzu pressanten Wert legst Du ja wohl nicht auf meine Gegenwart. Aber ich muß mir doch auch mal ansehen, was Guda mir denn für'n großartigen Schwager 'ranschleift – ich höre, daß sein Bruder, der Baronet, keine Kinder hat. Somit kriegt Percy doch wohl wenigstens den Titel, wenn der ältere Lightstone Lord Multon wird, und Gudas Sohn, falls sie mal einen kriegt, wäre die Nachfolge sicher. Es sollen fabelhaft reiche Leute sein. Mit so 'nem Schwager muß man sich intim anbiedern. Außerdem will ich mir doch mal das Château ansehen, in dem mein Alter nun residiert. Also ersuche ich Deine Gnade um postwendende Datumangabe. <closing>Viele Grüße von sozusagen Deinem Ehemann, der Dir hiermit Deine schöne Hand küßt.
Bertold.«</closing>
Das Vorgefühl des Vaters war zutreffend gewesen: manches zu burschikose oder gar frivole Wort ersetzte sie im Vorlesen durch harmlosere Wendungen. Dennoch sprach aber dies lange Schriftstück unverkennbar deutlich von der Art seines Schreibers, dieser unterhaltsamen, lebhaften, leichtlebigen Art, die weder vor sich selbst noch vor anderen große Achtung kennt. Auch gar kein Bedürfnis nach solcher Achtung fühlt… Graf Leuckmer saß beschämt und fragte sich zum unendlichsten Mal: Wie komme ich zu diesem Sohn? Er wußte wohl: unzählige Eltern werden überrascht durch die Entwicklung ihrer Kinder – sie steigen über die Eltern empor – sie sinken unter sie hinab – und man kann die geheimnisvollen Umwege nie ergründen, die die Natur genommen hat.</extract>
<extract>
Bei dem Abschied war Anne Marie ergriffen, wie Christa sie nie vorher gesehen, und zwischen Thränen und Lachen stammelte sie Drolliges und
Trauriges durcheinander. Und Christa mußte ihr immer wieder versichern, daß sie Adrian liebe, sehr liebe. Schließlich fand sie einen schwachen Trost darin, daß die Erde ja doch einmal in die Sonne stürze.
Christa an Anne Marie.
<opening>»Liebe, liebe Anne Marie,</opening> bitte, bitte, nicht böse sein, daß ich Dir nicht aus den Flitterwochen heraus (dummes, leichtfertiges Wort) ausführlich, wie Du mich batest, geschrieben habe. Ich wußte ja, was Du lesen wolltest: »Adrian macht mich unaussprechlich glücklich.« Gewiß, ich liebe ihn. Warum hätte ich ihn sonst geheiratet? obwohl man mitunter heiratet, weil man keinen Mut hat, nicht zu heiraten, oder weil es sich eben so macht. Und Du, hinterlistiges Schwesterchen, hast Dein Händchen ja hübsch dabei im Spiel gehabt.
Wie beschreibe ich Dir nur mein Glück? Es ist wohl unbeschreiblich, nicht weil es so groß ist, aber – es ist so vieles Komplizierte dabei. Du weißt ja, ich finde Adrian schön. Sein weiches, dunkelblondes Haar, seine zarten Mädchenlippen, seine schlanke Jünglingsgestalt. Und vor allem seine romantischen Augen, die blaublumenhaften, die wie aus der Ferne blicken.
Auf der Hochzeitsreise hatte ich ein so eigentümliches Gefühl, als wäre, was ich da erlebte, nur eine erdichtete Geschichte, die mich in – ja – in großer, herzbeklemmender Spannung erhielt, und wenn ich wieder nach Hause käme, würde das eigentliche Leben seinen Fortgang nehmen, und alles würde natürlicher und gemütlicher verlaufen.
Er war während der Reise von zartester Aufmerksamkeit, vielleicht etwas zu kavaliermäßig. Er ersparte mir auch die kleinste Anstrengung. Ich hatte aber ab und zu das Bedürfnis mich anzustrengen. Verweichlichung macht nervös.
Und als ich nun wieder daheim war – so ganz daheim war ich doch nicht. Mama hatte die Einrichtung durchaus im Rulandstil besorgt, nur weniger kostspielig, keine Gobelins und Kunstwerke, aber sehr hübsch alles, persische Teppiche, Blumen, allerliebste Sächelchen. Im Ganzen eine poetisch zugestutzte, harmonische Wohlhabenheit. Der Vater hatte als spezielles Hochzeitsgeschenk ein Harmonium geliefert, um, wie er sagte, nach etwaigen Zankduetts ein purifizierendes Seelensolo anzustimmen. Ein Harmonium hatte ich mir vor Jahren einmal gewünscht, den Wunsch seitdem aber vergessen. Die Wohnung sieht sehr nach etwas aus. Ob nach mir? Am besten gefällt mir Adrians Zimmer. Er hat seine Junggesellen-Möbel behalten, altmodisch und kunstreich geschnitztes rötliches Mahagoni. Schön passen dazu ein paar feine Kupferstiche und alte Porträts mit dem Parfüm von Ahnensälen. Distinguierte Einfachheit.
Denke Dir, ich kann mich immer noch nicht entschließen, meine eleganten Ausstattungskleider zu tragen. Alle meine alten Sachen habe ich mitgenommen, und die trage ich am liebsten; ich komme mir dann weniger verheiratet vor, noch nicht so für alle Zeit an einen bestimmten Ort eingepflanzt, und als könnte ich noch frei durch den Garten des Lebens streifen. Unsinn! Als ob ich bei Mama frei gewesen wäre! Und doch hat die vage Vorstellung von einer großen, neuen Freiheit zu meiner Ehebereitwilligkeit beigetragen.
So – nun hast Du wohl schon zwischen den Zeilen gelesen, daß ich mich noch ein wenig fremd mit Adrian fühle, so ein bischen wie verzaubert in eine Gegend, wo man Weg und Steg noch nicht kennt. Aber sie wird schon kommen, die Vertrautheit, die anheimelnde Herzlichkeit. Vielleicht sind es gerade die flacheren, die konventionellen Menschen, die sich leicht in eine so neue, vertrauteste Vertrautheit finden. Am Tag vor der Hochzeit noch eine große Distance zwischen uns, eine Vorsicht in Wort und Gebärde, eine Scheu vor liebkosender Berührung. Und nun plötzlich – – dieses engste Beieinandersein, Tag und Nacht. Es fehlen da Uebergänge. Zuweilen läßt mich die Vorstellung, daß er mich im Schlafe sieht, nicht einschlafen. Ich weiß nicht, wie ich im Schlaf aussehe, vielleicht unangenehm. Es ist, als gehörte mir mein Schlaf nicht mehr. Du weißt, ich schlief sonst nicht gern im Dunkeln. Jetzt muß es ganz, ganz dunkel sein.
Alles, was ich da schreibe, ist geschraubt, ich weiß es. Das kommt, weil es ein Flitterwochenbrief sein soll. Wenn unsere Wahrhaftigkeit in die Tinte gerät, so kommt sie etwas verdunkelt wieder heraus. Ich suche aus der Tinte zu retten, was zu retten ist. Ja, ja, ich liebe ihn, meine Gefühle aber haben so etwas Glimmendes, Anfachungsbedürftiges. Kein Zugwind. Die Luft ist lau.
O, Anne Marie! Anne Marie! es ist oft eine so zornige Scham in mir – ich kann es nicht sagen – Du mußt es erraten. Und ich trage es ihm nach, daß ich mich schäme.
Siehst Du, meine liebe, liebe Schwester, an jenem Verlobungsabend, als der Mond so wunderbar erschien – ich stand auf der Veranda – und er mir sein schönes Gesicht zuwandte, da überkam mich ein rasendes Verlangen, mich an seine Brust zu werfen, mich ihm ganz und gar zu vermählen. Aber das zwingend Natürliche geht ja immer nicht, es geht nicht. Und er kam ja auch nicht, er kam nicht. Aber warte nur, warte, es wird alles schon werden, denn eine große und ehrliche Lust ihn zu lieben, hat
<closing>Deine Christel.«</closing>
Und zwei Monate später schrieb sie:
<opening>»Anne Marie! Anne Marie!</opening> sie sind vorbei, die Flitterwochen. Gott sei Dank! schon drei Monate verheiratet! Nun brauche ich kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen, um so weniger, da Du mich doch so dringend ersuchst, aus meinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Also heraus! all ihr antiadrianischen Gefühle. Erschrick nicht! ich liebe ihn. Ich fasse meine Klagen gegen ihn in einen Satz zusammen: Er ist zu fein für mich, zu fein. Es ist da etwas in seiner Art und Weise – ich kann es nicht genau definieren, das – ja, es schüchtert mich ein. Etwa seine angeborene Vornehmheit, der gegenüber ich mir so rasselos vorkomme? Wir können es nicht leugnen, Anne Marie, unsere Eltern sind doch eigentlich Parvenüs. Mama hat die guten, anmutigen Formen erst erlernt. Sie fühlt sie als Besitz und ist stolz darauf. Und der liebe Vater – zu einem Reserveleutnant reicht's bei ihm nicht.
Ich bleibe immer in einer gewissen Distance von Adrian, was bei manchen häuslichen Angelegenheiten unbequem ist. Zuweilen komme ich mit dem Wirtschaftsgeld nicht aus und bringe es doch nicht über die Lippen, mehr zu fordern. Und ich kann ihm doch nicht statt Seezunge oder Steinbut einen Schellfisch vorsetzen. Er würde es gleich merken und mit einer berückenden Liebenswürdigkeit sagen: »Ah – Schellfisch!«
Ach Anne Marie, so lange das Geld eine so große Rolle in der Welt spielt, gerät man mit seiner Adelsmenschlichkeit in unangenehme Klemmen.</extract>
<extract>Lebenssucher von L. Braun
Zwei Briefe warteten seiner. »Von Else –« dachte er. Aber so stark wie seine Erwartung gewesen war, empfand er im Augenblick ihre Erfüllung nicht. Als hätte er eben auf einem
Berghange voll blühender Alpenrosen gestanden und träte plötzlich in ein Treibhaus blasser Azaleen.
»Nur um uns vor schmerzhaftem Mißverstehen zu bewahren, schreibe ich Ihnen heute,« las er; »aber Sie müssen sich an diesen wenigen Zeilen genügen lassen. Wer möchte einen lieben Freund, der sich des blühenden Sommers freut, an vereiste Seen und entlaubte Bäume erinnern. Sollte Ihnen Warburg, der mich neulich in meiner Klause überfiel, allerlei Sentimentalitäten von mir erzählen, so schenken Sie dem keine allzu große Beachtung. Er ist selbst verändert, wärmer, ich möchte fast sagen menschlicher und sieht mit anderen Augen –« Konrad, dessen volles Interesse wieder erwacht war, riß den Umschlag von dem anderen Brief. Warburg schrieb:
»Für Deine und Deiner verehrten Frau Großmutter Einladung danke ich von Herzen. Aber ich möchte in diesem Sommer hier bleiben. Ich will die Ferien benutzen, um mich mit einer Frage näher zu beschäftigen, die, je mehr sie außerhalb meines Studiums liegt, um so mehr meine Empfindung gefangen nimmt: dem Zionismus. Frau Sara Rubner – Du erinnerst Dich vielleicht der jungen Frau mit dem interessanten Mongolentypus aus dem Simmel-Kolleg – gewinnt mich mehr und mehr dafür. Für uns moderne Juden, die wir uns immer stärker unserer seelischen Heimatlosigkeit bewußt werden, bietet sich hier vielleicht – vielleicht – ein neuer Wurzelboden.« Also auch er, dachte Konrad verwundert, auch er, den das Studium, der kommende Beruf so ganz zu erfüllen schienen, bedurfte noch eines anderen Lebensinhalts! »Doch nicht dies ist der Grund meines heutigen Briefes. Ich hätte wohl noch lange mit ihm gezögert, wenn mein Besuch bei Else Gerstenbergk mich nicht fast zu einem Telegramm an Dich bewogen hätte. Es muß etwas für sie geschehen. Pawlowitsch scheint sie verlassen zu haben, wenigstens ließ er seit Monaten nichts von sich hören – man behauptet, er sei mit Frau Renetta Veit an der Riviera
gesehen worden – und sie leidet unsäglich. Jedes Lächeln, zu dem sie sich zwingt, denn kein Wort der Klage kommt über ihre Lippen, schneidet ins Herz. Man sollte sie der Einsamkeit, der sie sich widerstandslos ergibt, gewaltsam entreißen, und Du, an dem sie mit rührendem Vertrauen hängt, wärst der rechte Mann dafür. Lade sie statt meiner nach Hochseß. Mache es recht dringend, als wäre ihr Kommen in Deinem Interesse notwendig.«
Konrad legte den Bogen erregt beiseite. Gewiß, es mußte geholfen werden, er mußte helfen. In Erinnerung an den, um dessentwillen sie zugrunde ging, ballte er unwillkürlich die Hände. Seine Freundschaft mußte ihm dies Opfer entreißen. Freundschaft!? Lachte ihn nicht eben wieder die rote Lotte an?! – Mit raschem Entschluß, jedes Bedenken weit von sich weisend, ging er zur Großmutter. Er war nicht ohne Sorge, ob sie sich würde gewinnen lassen.
Rückhaltlos erklärte er ihr die Lage Elsens, zeigte ihr auch Warburgs Brief. Die Gräfin antwortete zunächst nicht. Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, um schließlich, vor dem Enkel stehen bleibend, einen langen forschenden Blick auf ihn zu werfen.
»Sie ist nicht deine Geliebte?« fragte sie langsam.
»Nein, Großmama,« antwortete er, ihrem Blick begegnend.
»So mag sie kommen,« lautete gleich danach der Bescheid. Stürmisch zog Konrad die Hände der Greisin an seine Lippen. Ein Ausdruck plötzlich aufsteigender Besorgnis huschte über ihr Antlitz. Sie beherrschte sich jedoch rasch. »Ich schreibe selbst,« sagte sie dann, sich vor den Schreibtisch setzend.</extract>
<extract>Besser Herr als Knecht von F. von Zobeltitz
Auch etwas wie die Zärtlichkeit eines Vaters zum Sohne und die respektsvolle Verehrung eines Sohnes zum Vater mischte sich hinein; und doch war Gerald nur ein Dutzend Jahre älter als Emich. Mitte November war Treibjagd in Stenzig. Das halbe Offizierskorps fuhr hinüber. Emich hatte abgesagt, aber ein Bote aus Stenzig brachte ihm noch am Tage vor der Jagd folgenden Brief:
<opening>»Geliebtes Dickerchen!</opening> Was soll denn das nun wieder heißen?! Warum kommst Du nicht? Du hast doch sonst niemals eine Jagd versäumt? – Ich bin recht unglücklich, daß Du Dich in letzter Zeit so selten sehen läßt. Hat Dir irgendeiner von uns etwas getan? Der Major sagte neulich einmal, Du hättest Anlage zum Philister und wärst ein Stubenhocker. Das ist mir aber wirklich neu. Tu mir die Liebe und komme morgen her. Der Onkel würde es sehr übel vermerken, wenn Du zu Hause bliebst. Ich habe ihm vorläufig Deine Absage verheimlicht. Ich muß Dich auch einmal sprechen; in Stubbach geht irgend etwas vor. Also ich verlaß mich darauf, daß Du kommst. <closing>Kuß, mein Dickchen – Deine alte Tante I.«</closing>
Das I war lang über die ganze Seite ausgezogen – ein graphologischer Beweis dafür, daß die Tante in Erregung geschrieben hatte. Da gab es freilich kein Zögern mehr.</extract>
<extract>Das Heiratsjahr von F. von Zobeltitz
»Ich auch, aber umsonst,« warf Freese ein.
»Na also – ich hatte mehr Glück! Vor ein paar Tagen bekam ich einen Brief – warten Sie 'mal, ich habe ihn bei mir –« und er zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein Schreiben, das er entfaltete und Franz hinüberreichte, der es halblaut las:
»Hohen-Kraatz bei Plehningen über Frankfurt a. O., 20. Juni.
<opening></opening>
Hauslehrer X. Z. 103. Expedition der Kreuzzeitung, Berlin.
Auf Ihre Annonce hin zur gefälligen Nachricht, daß ich für meine beiden Söhne, Zwillinge, zehnjährig, einen tüchtigen, energischen Hauslehrer mit guter Lehrmethode suche und eventuell um Ihre Papiere, Zeugnisse und Empfehlungen bitte.
<closing>Hochachtungsvoll
Frhr. von Tübingen.«</closing>
Reinbold nahm den Brief zurück und steckte ihn wieder zu sich.
»Ich schickte also meine Papiere ein,« fuhr er fort, während Freese aufmerksam zuhörte, »– was ich so hatte: Abiturientenzeugnis, Geburtsschein, ein paar Empfehlungsbriefe – und da kriege ich denn heute folgendes Telegramm.« . . . Er suchte wieder in seiner Brieftasche und las Freese die Depesche vor: <opening></opening>»Will Sie engagieren. Freie Station, siebenhundert Mark Jahresgehalt. Erwarte Nachricht, wann Sie eintreffen. Werde Wagen Plehningen schicken. Von Tübingen.«<closing></closing>
Freese hielt fast den Atem an, so gespannt war er auf die weitere Entwickelung der Angelegenheit. Siebenhundert Mark und freie Station . . . war dieser Reinbold ein Glückspilz! . . .</extract>
<extract>Der Stern des Gluecks von N. von Eschstruth
Jean Baptiste steht neben ihr. Sein altes vertrocknetes Gesicht blickt kummervoll auf die schlanke Gestalt, die in dem weißen Kaschmirmorgenkleid so zart und leidend, wie der Getreue es nie für möglich gehalten, aussieht.
Er verneigt sich und bietet ihr die kleine Tafel entgegen.
Mit der andern Hand hält er einen Brief auf silbernem Tablett.
Benedikta neigt sich über die Tafel und liest, was Jean für sie aufgeschrieben.
<opening>»Gnädigste Baroneß.</opening> Ich habe schon seit zwei Tagen einen Brief für Exzellenz in Empfang genommen. Er trägt einen Namenszug mit Fürstenkrone und den Vermerk: ›Herzogliche Angelegenheit‹. Ich wage darum nicht, den Brief zu öffnen. Nun kann ich aber Exzellenz auch nicht dazu bewegen, es zu tun. Der alte Herr ist vollkommen stumpfsinnig geworden und schiebt den Brief immer wieder zurück. Da es etwas Eiliges sein könnte, erlaube ich mir nun, Baroneß zu bitten, das Schreiben gütigst öffnen zu wollen.«<closing></closing>
Jean Baptiste war ein gewandter Schreiber gewesen, aber es deuchte Benedikta, als ob seine Schrift sehr viel zittriger als früher ausschaue.
Sie nickte ihm freundlich zu und griff nach dem Schreiben, einen aufmerksamen Blick auf die Initialen des Umschlages werfend. Ein Ordensband schlang sich zum Ring, eine lateinische Inschrift tragend. Ganz klein inmitten zwei verschlungene Buchstaben, und über dem Ganzen die geschlossene Fürstenkrone.
Eine klare, große, sehr ruhige und feste Schrift, aber keine Schreiberhand.
Nach kurzem Zögern öffnet Benedikta das steife Papier.
Ein elfenbeinfarbener Bogen, ebenfalls die Initialen des Umschlags, klein und anspruchslos, nicht mehr als einen Stempel tragend, klappt unter ihren schlanken Fingern auseinander.
<opening>»Exzellenz, hochzuverehrender Herr Minister!</opening>
Durch meine Krankenwärter habe ich in Erfahrung gebracht, daß ich Ew. Exzellenz sowohl wie Dero hochzuverehrenden Baroneß Enkelin zu ganz besonderm Dank verpflichtet bin. Während ich durch den Sturz von dem Pferde bewußtlos auf freiem Felde gelegen, hat Baroneß Floringhoven die unendlich liebenswürdige Barmherzigkeit geübt, mich in ihrem Schlitten nach Altenfähre befördern zu lassen. Leider machte es mir meine beschleunigte Abreise in die Klinik des Professors Dr.B. unmöglich, persönlich meinen Dank im Hause Ew. Exzellenz abstatten zu können, und hole ich denselben nunmehr auf schriftlichem Wege in verbindlichster und erkenntlichster Weise nach. Wollen Ew. Exzellenz die große Liebenswürdigkeit haben, mich Baroneß Floringhoven voll dienstwilliger Verehrung angelegentlichst zu empfehlen, und die Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung zu genehmigen, mit der ich stets verbleibe Ew. Exzellenz aufrichtig ergebener
<closing>Percy, Prinz zu X.X.</closing>
Das steife Briefblatt wankte und zitterte wunderlich in der Hand der Lesenden.
Sie hob, wie unter gewaltsamer Anstrengung, das leichenfahle Antlitz und befahl Jean mit kurzer Handbewegung, sich zu entfernen.
Betroffen starrte der Alte in die jäh veränderten Züge seiner Herrin, aber er befolgte gehorsam ihren Wink und trat wie ein lautlos gleitender Schatten zur Tür zurück.</extract>
<extract>
Alle waren bewegt und befriedigt, sogar Kaulbars. Als er aber schließlich auf seinem Vorwerk ankam und von seiner Frau gefragt wurde, wie's denn eigentlich gewesen sei, kam doch etwas vom alten Adam wieder in ihm heraus, und so mußt er denn wieder nörgeln, wie's nun mal seine Natur war. »Ja, Röse, wie soll es gewesen sein«, hob er an, »es war ja soweit alles ganz gut. Aber als der alte Herr von Bredow
begraben wurde, war nicht halb soviel los. Sie haben immer zuviel von ihm gemacht, und eigentlich war es, wie wenn ein Prinz begraben würde. Und Obadja, denk ich, wird nu woll auch noch Landestrauer ausschreiben. Was zuviel is, is zuviel… Und Miss Ruth, na, die weinte, daß es ein Jammer war, und die alte Pollacksche schrie, als ob sie der Bock stieße. Und der verrückte Franzose, den hättst du sehen sollen. Der stand da, geradso, als ob er lebendig mit eingemauert werden sollte. Und wenn sie ihn mal kriegen, na, denn kann so was auch immer noch kommen.«
Um dieselbe Nachmittagsstunde aber, wo Kaulbars diese Betrachtungen seiner Frau gegenüber anstellte, saß Obadja an seinem Arbeitstisch und schloß einen längeren Brief mit der geschnörkelten Aufschrift: An den Kirchen- und Gemeindevorstand zu Wolfshau bei Krummhübel in Schlesien (Prussia).
Der Brief selbst aber lautete:
<opening></opening>
»Dem verehrlichen Kirchen- und Gemeindevorstande zu Wolfshau (Krummhübel) habe ich in nachstehendem die Pflicht, das Hinscheiden ihres Ortsangehörigen Lehnert Menz bekanntzugeben. Er starb hier am 1. Juni d. J. und wurde den 4. in unserer Familiengruft zu seiner letzten Ruhe bestattet. Über sein Vorleben und seine Schuld war ich durch ihn selbst unterrichtet, aber ebenso war ich, von dem Tage seines Eintritts in unser Haus an, auch ein Zeuge seiner Reue. Seine Tüchtigkeit bei der Arbeit, seine kleinen gesellschaftlichen Gaben, seine Demut und Bescheidenheit (wohl erst durch den Gang seines Lebens erworben), vor allem aber seine gute Sitte, machten ihn zum Liebling unseres Hauses, und es war beschlossen, ihn, noch im Laufe dieses Sommers, meiner Familie näher zu verbinden: die Hand meiner Tochter Ruth, die er durch seinen Mut und seine Geistesgegenwart gerettet hatte, war ihm zugesprochen. Alles ließ eine glückliche Zukunft erwarten. Als er mir aber auch den auf einem Jagdausfluge begriffenen und in eine gefährliche Lage geratenen Sohn erhalten wollte, war es ihm, nach Gottes unerforschlichem Ratschluß, vorherbestimmt,
diese neue Liebestat mit seinem Leben zu bezahlen. Im eifrigen Suchen nach dem, den er in unserem Gebirge verirrt glaubte, glitt er einen steilen Bergkegel, den wir den Look-out nennen, herab und verletzte sich dabei derart (der Hüftknochen sprang aus dem Gelenk), daß er unfähig war, sich von der Unglücksstelle fortzubewegen, geschweige denn seinen Rückweg nach unserem Dorfe hin zu finden. Und in Einsamkeit ist er dort oben gestorben, nicht ohne daß sich zu seinem körperlichen Schmerz auch noch der Schmerz des Gewissens gesellt hätte, wie seine letzten Worte mit aller Bestimmtheit bezeugen. Wir fanden ihn den zweiten Tag, hoch auf dem Kamm des Gebirges, tot, mit einem in die Brusttasche gesteckten Zettel, auf den er, nachdem er sich eigens die Hand mit seinem Messer geritzt, all das mit Blut niedergeschrieben, was ihm in seiner letzten schweren Stunde das Herz bewegt hatte. Das Holzstäbchen, das ihm dabei gedient, hielt er noch in seiner Rechten. Die niedergeschriebenen Worte aber lauten: ›Vater unser, der du bist im Himmel… Und vergib uns unsere Schuld… Und du, Sohn und Heiland, der du für uns gestorben bist, tritt ein für mich und rette mich… Und vergib uns unsere Schuld… Ich hoffe: quitt.‹ Mir aber, der ich, neben der Meldung vom Tode des Lehnert Menz, auch diese seine letzten Worte zu Ihrer Kenntnis zu bringen hatte, sei es gestattet, hinzuzufügen, daß ich der Überzeugung lebe, seine Buße habe seine Schuld gesühnt: ›Hoffnung läßt nicht zuschanden werden.‹
<closing>Eines verehrlichen Kirchen- und Gemeindevorstandes zu Wolfshau (Krummhübel) ganz ergebenster Obadja Hornbostel, Prediger und Vorstand der Mennonitengemeinde zu Nogat-Ehre, Indian-Territory. U. St.«</closing></extract>
<extract> Thoma_Ludwig_Andreas_Voest
Die Leute knieten nieder und bekreuzten sich andächtig. Und die Bäcker Ulrich Marie betete mit lauter Stimme das Vaterunser vor.
Viertes Kapitel
Lieber Josepf!
Ich deile Dir zum wiesen mit, das mir vor acht Dag die Muder eingraben ham. Mir haben nichts gemeint, indem es so schnell gangen ist. Aber der Vadder ist anderst zornig, weil die Muder ein Desdament gmacht hat und schenkt der Kirch finfhundert March fier den neien Durm. Beim Notari is das Desdament gwest und mir ham nichts gewußd.
Lieber Josepf, wie get es Dir? Hofendlich get es Dir gut und darfst auf Weinachd heraus. Dem Brückl sein Fux hat umgschmiesen und eine Haksen brochen und hat ihn stechen müsen.
Beim Elfinger und der Haslinger ham Schtraf zalen müsen, weil die Schaf reidig warn und habens nicht angezeichd. Es kost jeden dreisig March und is der Tirarzd nicht dabei. Da kost es noch mer. Das ist fiel Geld.
Unsere Scheck hat die voring Woch ein Kalb kriegt; es ist siebsich Fund schwer und gesund. Der Woaz is gut hereinkomen, aber der Vadder schimbft wegen das Desdament.
Lieber Josepf, hofendlich get es Dir gut und schreib bald.
Es grießt Dich Deine Muther
Diesen Brief erhielt der Soldat Josef Vöst vom 12. Infanterieregiment, und er konnte daraus sehen, daß sich daheim Gutes und Böses begab.
Er dachte über beides nicht lange nach und war so wenig bekümmert wie andere junge Leute.
Aber seinem Vater ging es im Kopfe herum, von der Früh bis zum Abend.
Er war alleweil gut mit der Mutter gefahren und hatte ihr kein böses Wort gegeben. Sie war zufrieden mit dem Austrag, und wenn sie vom Sterben redete, sagte sie oft, daß ihr ausgemachtes Vermögen beim Anwesen bleibe.
Bloß etliche hundert Mark für Seelenmessen sollten davon abgehen, und so war es auch geschrieben im ersten Testament. Aber ein paar Monate vor ihrem Tode machte sie den Nachtrag und verschrieb fünfhundert Mark für die Erbauung eines neuen Turmes.
Das war ihm unverhofft gekommen, und er hätte nicht daran gedacht.</extract>
<extract>Da erhielt er eines Tages einen schwarzumränderten Brief. Auf dem Stempel stand Santa Margherita, die Handschrift war Crones.
Sie schrieb:
<opening>»Lieber Freund!</opening>
»Ich muß Ihnen mitteilen, daß vor drei Tagen mein geliebter Ätti sanft entschlafen ist. Vor einer Stunde haben wir ihn zur letzten Ruhe gebettet, er liegt unter den Lorbeern und Zypressen, an denen er im Leben seine Freude hatte, und an dem Ort, den er selbst dazu bestimmt, falls der Tod ihn hier überraschen würde. Vor zwei Wochen traf ihn ein leichter Schlag, der ihm die Sprache, aber nicht das Bewußtsein raubte. Er hatte, seit wir das Haus droben in Deutschland verlassen, eine tiefe Traurigkeit in sich getragen, ohne zu klagen. und seinen Kummer durch Arbeit zu betäuben gesucht. Das hat seine Kraft so lange vor der Zeit aufgezehrt. Ihrer hat er noch in den letzten Tagen, bis der Schlag sich stärker wiederholte und ihn hinwegnahm, beständig gedacht; ich sende Ihnen inliegend ein Blatt, auf dem er mit der nicht gelähmten linken Hand einen Gruß an Sie hingekritzelt hat. Schon früher hat er mir mitgeteilt, die Summe, die er aus dem Verkauf des Hauses am Seehof gelöst, habe er Ihnen für Ihre Klinik bestimmt. Ich werde seinen Bankier anweisen, Ihnen das Geld zu schicken. Für mich hat er überreich gesorgt.
»In wenigen Tagen, wenn all die traurigen Geschäfte abgetan sind, reise ich zu meiner Tante Corona, wo ich zunächst zu bleiben gedenke, bis sich ein Wirkungskreis für mich findet. Cattina geht mit mir. Wie viel ich ihrer Treue verdanke, kann ich nicht aussprechen.
»Ich erwarte keine Antwort auf diesen Brief. Wie teuer Ihnen der Entschlafene war, weiß ich. Er hat Ihre Liebe und Verehrung Ihnen reichlich vergolten. Jedes Wort über diese schwersten Schicksale, die arme Menschen treffen können, zeigt einem nur, daß selbst die Nächsten keine Ahnung von der ganzen Tiefe unseres Kummers haben.
<closing>»Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Daß mich diese Hoffnung nicht täusche, ist der innige Wunsch Ihrer
Crone.«</closing>
Wohl eine Stunde lang, nachdem er diesen Brief gelesen, saß Helmbrecht regungslos an seinem Schreibtisch und suchte sich in dem Gewühl seiner dunklen, schmerzlichen Gefühle zurechtzufinden. Der ruhige, fast geschäftsmäßige Ton dieser Trauerbotschaft und daß sie ihn nicht mehr mit Du angeredet, verletzte ihn tief. Er fühlte, daß sie ihn hinfort als einen Fremden betrachtete, wenigstens betrachten wollte, dem sie nur ein loses Anrecht einräumte, an ihren Schicksalen teilzunehmen. Dann regte sich wieder in ihm die Bewunderung für die Seelenstärke und schlichte Tapferkeit dieses geliebten Wesens, das selbst in einer Zeit schwerster Erschütterung keiner Schwäche, die ihr Gewissen verurteilt hätte, nachgab, sondern ihren vereinsamten Weg mit offenen Augen weiterging, so sehr ihr das Herz dabei blutete. Er sah sie wieder vor sich wie in der Stunde des Abschieds, jetzt nur noch rührender in ihrer Trauerkleidung, die sanften Augen wie von überirdischem Glanze leuchtend, noch halb ein Kind und doch schon eine Heldin, die den Kampf des Lebens und alles Grauen einer freudlosen Zukunft willig auf sich nahm, nur um sich nicht mit ihrem Herzen zu entzweien.</extract>
<extract> Skowronnek_Richard_Sturmzeichen
»Die wo ebe gekomme ischt, Herr Hauptmann. Sie hockt im Vorzimmer, schaut aus wie eine von dene Schpreewäldlerinne, und der Herr Hauptmann tät scho wisse, von wem daß das Briefle wär'.«
»Sagen Sie ihr, sie soll noch ein paar Minuten warten! Und legen Sie mir die erste Garnitur Ueberrock zurecht!«
»B'fehl, Herr Hauptmann!«
Als der Bursche das Schlafzimmer verlassen hatte, hielt Gaston eine ganze Weile lang den Brief unschlüssig in der Hand. Mit einem Schlage war ihm die Erinnerung zurückgekehrt, und ein Gefühl des Ekels vor sich selbst schnürte ihm die Kehle zusammen. Körperliches Unbehagen nach dem ungewohnten schweren Trunke und dazu ein ganzes Heer bohrender und nagender Vorwürfe. Wie ein Verbrecher erschien er sich, der nach einer im Rausche begangenen Freveltat erwachte. Der bleierne Schlaf hinterher hatte sie nicht ungeschehen gemacht, nur um so schreckhafter stand sie im klaren Tageslichte da! Und der Brief hier brachte ihm sein Urteil.
Mit zitternder Hand riß er ihn auf, das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf.
<opening>»Mein Liebstes!</opening>
In aller Eile ein paar Zeilen, weil ich Dich beim Erwachen nicht ohne Gruß lassen wollte. Ich habe die Nacht nicht geschlafen. Ich lag mit offenen Augen und konnte nicht fassen, was geschehen war. Immer hatte ich Angst, wenn es wieder Morgen würde, wäre es nicht wahr. Dann aber wiederholte ich mir alles, was Du gesprochen hattest, und die selige Gewißheit zog in mein Herz, daß Du mir gehörst und ich Dir, für immer! An Deiner Hand, Du Lieber, in ein neues Leben gehen zu dürfen, die Seligkeit ist so groß, daß ich sie kaum ertragen kann. In einem einzigen Lachen und Weinen gehe ich umher!
Mit dem Widerwärtigen, was heute nacht noch geschah, will ich Dich verschonen, auch all das Ueble und Häßliche soll Dir fernbleiben, was in dem Kampf um meine Freiheit nun mal nicht zu vermeiden ist. Er wird kurz sein, denn ich habe gute Waffen in der Hand.
Heute nachmittag um fünf erwarte ich Dich. Da will ich noch einmal von Dir hören, daß Du mich lieb hast. Dann aber müssen wir für eine ganze Zeit Abschied voneinander nehmen. Sieh, mein liebster Bub, die Tränen fallen mir aus den Augen auf dieses Blatt, weil ich daran denke, daß wir uns vielleicht auf Monate nicht wiedersehen sollen, aber auf unseren zukünftigen Bund soll kein häßlicher Schatten fallen. Kein Gezischel und kein hämisches Gerede soll sich erheben dürfen. Daß wir uns heimlich versprochen haben, geht keinen Menschen was an!
Meine alte Ursel, die um mich ist, seit ich auf der Welt bin, überbringt Dir diesen Brief. Gib ihr mündlich Bescheid, ob ich Dich um fünf erwarten darf. Den Brief aber verbrenne, denn die Leute, mit denen ich's jetzt zu tun bekomme, schrecken auch vor einem verschlossenen Schreibtisch nicht zurück.
Ich umarme Dich und küsse Deine lieben, blauen Augen, die es mir zuerst angetan hatten bei Dir. Ich zähle die Minuten, bis Du bei mir bist.
<closing>Josepha.«</closing>
Unwillkürlich regte sich in Gastons Brust etwas von dem Gefühl, das er in der vergangenen Nacht empfunden hatte, als er die schöne Frau im Wagen heimgeleitete. In dem Briefe da war etwas, das ihn seltsam ans Herz rührte … Und daß er sich mit Skrupeln plagte, wo andere, die das Leben leichter nahmen, mit beiden Händen zugegriffen hätten, lag vielleicht nur an seiner übergroßen Gewissenhaftigkeit. An einer schier schulmeisterlichen Strenge, mit der er noch immer sich selbst erzog. Der Landsberger Husar, Herr von Wodersen, war gewiß ein Offizier und Edelmann von untadeliger Gesinnung. Der aber würde ohne ein Wimperzucken sein Seelenheil verpfänden, wenn er in diesem Augenblick an seiner Stelle stehen dürfte! Und die Befürchtung, er müßte seine Karriere aufgeben, wenn er eine gewesene Schauspielerin heiratete, hielt bei näherem Ueberlegen nicht stand. Da ließ sich mit einigem guten Willen zu einer kleinen Vertuschung ein Ausweg finden. In dem kleinen ostpreußischen Städtchen da oben an der Grenze gab es wohl keinen Menschen, der Josepha auf der Bühne gesehen hatte. Da war sie nichts anderes als die geborene Baronesse Nadanyi, die nach schuldlos geschiedener Ehe den Rittmeister von Foucar heiratete. Wenn er sich aber in dem Regiment erst die gesellschaftliche und dienstliche Stellung geschaffen hatte, die ihm bei seinen Fähigkeiten sicher war, sollte wohl niemand auf den Gedanken kommen, daß bei seiner Verheiratung irgend etwas zu bemäkeln wäre. Na, und nachher richtete man sich miteinander ein, so gut es eben ging. Und was heute wie eine Art von Zwang aussah nach dem gegebenen Wort, wurde vielleicht eine ehrliche Zuneigung, auf der man sein Leben aufbauen konnte. Ein fester Entschluß aber mußte endlich gefaßt werden.
Er griff nach der Klingel, sein Bursche betrat das Zimmer.
»Herr Hauptmann befehle?«</extract>
<extract> Skowronnek_Richard_Schweigen_im_Walde
»Schön,« sagte der Maler, »und ich bin zu allen Schandtaten bereit!« Ging auf sein Zimmer und vertauschte den langen Malkittel mit dem Samtjackett zweiter Garnitur. Und da sein Gastgeber weit umständlicher Toilette machte, fand er genügend Zeit, das verbotene Brieflein zu schreiben und es durch seinen vertrauten Gärtnerburschen nach Groß-Lipinsken zu senden. Die erste Seite zeigte wie üblich eine bildliche Darstellung – diesmal ein pfeildurchbohrtes, flammendes Herz, dann erst kam das Schreiben.
»Verehrteste, teuerste Freundin,
so, wie vorstehend abgebildet, ist er zurückgekommen, es brennt lichterloh. Aber man lernt doch nie aus im Leben: Seine erlauchten Vorfahren schlugen tausend Sarazenen tot, um bei der Heimkehr ein gnädiges Lächeln der Angebeteten zu ernten, er aber sinnt darauf, sie gründlich anzuärgern. So ändern sich die Zeiten! Womit er seinen Zweck erreichen will, werde ich erst erfahren, wenn es für die Absendung dieses Briefleins schon zu spät wäre. Er hat nur gesagt, wir müßten eine deutsche Meile weit auf dem Bauch kriechen, also wundern Sie sich nicht, wenn morgen früh in Groß-Lipinsken sämtliche Hammel gestohlen sind oder die Laternen ausgedreht. Wie er die Baroneß Elsbeth damit ärgern will, habe ich nicht zu untersuchen. Im übrigen beurteile ich die Situation sehr rosig, hoffe auf ein Stimmungsbildchen aus dem sogenannten gegnerischen Lager und verbleibe in Sehnsucht ersterbend
Ihr allergetreuester
Hans Haffner.«
Sechstes Kapitel
Hans Heinrich von Mechowen traf zu seiner nachmittäglichen Kaffeevisite gerade ein, als die Wogen der Erregung nach dem Abgange des Klein-Lipinskers so ziemlich am höchsten brandeten. Die Beamten mit ihrem männlichen und weiblichen Anhang debattierten draußen auf der Parkterrasse, wohin sie wahrscheinlich von Tante Lieschen verwiesen worden waren, drinnen im Speisesaal aber die Herrschaft. Die einzigen, die mit der Situation anscheinend zufrieden waren und den Mund hielten, waren die vier Wisotzkischen Kinder. Sie saßen um den runden Verandatisch und aßen schweigsam eine süße Grießspeise mit Himbeersoße. Wie der Berg des Schlaraffenlandes türmte sich die für etwa zwanzig Personen angerichtete Mehlspeise vor ihren Tellern, und da trotz eines viertelstündigen energischen Angriffs noch keine augenfällige Abnahme zu merken war, hatte es in der kleinen Tafelrunde auch noch keine Streitigkeiten gegeben wegen gegenseitiger Übervorteilung, gierigen Vordrängens und dergleichen. Frau Wisotzki sagte nur zuweilen: »Passen Sie, bitte, auf, Herr Kandidat, daß die Kinder sich nicht den Magen verderben,« dann wandte sie sich wieder der Debatte zwischen ihrem Manne und dem Förster zu, die sich nach wie vor um den Dokumentengraben und um seine angeblich unrichtige Anlage drehte.
Der Mechower Hans Heinrich, der von der Parkseite her geritten kam, schwang sich aus dem Sattel.</extract>
<extract> Schubin_Ossip_Maximum
Ja, so war's gekommen – seit dem gestrigen Abend war er Bräutigam!
Jetzt saß er in seinem Zimmer im Hotel de Paris, hielt die Feder in der Hand und schrieb an einem Briefe, mit dem er nicht vom Fleck kam.
Der Anfang lautete folgendermaßen:
»Meine verehrte Mutter!
Ich will Dir heute eine Nachricht mitteilen, die Dich, glaube ich, von ganzem Herzen erfreuen wird – ich habe mich heute verlobt, und zwar mit der einzigen Tochter des außerordentlichen Gesandten von Siehrsburg.
Kitty ist wirklich das reizendste Mädchen, das ich je . . .«
An diesem Punkte stockte seine Feder. Er erinnerte sich nämlich plötzlich, daß er bereits einmal genau dieselbe Phrase verwendet hatte, um seiner Mutter eine andre junge Dame zu schildern, die er ihr ebenfalls als Schwiegertochter zuzuführen beabsichtigt hatte, und diese Schwiegertochter war nicht im mindesten nach dem Geschmack der Gräfin Ulenberg und eine kleine Russin, angeblich vornehmer Herkunft, gewesen, die er im russischen Nationalkostüm, den Kokoschnjk auf dem Kopfe, im Wiener Wurstelprater ein Damenorchester hatte dirigieren sehen. Er hatte damals achtzehn Jahre gezählt und die junge Dame flehentlich gebeten, bis zu seiner Großjährigkeit auf ihn zu warten. Glücklicherweise hatte ihr das zu lange gedauert.
Das war längst verjährt und die ganze Geschichte ja eigentlich mehr komisch als ernstlich gefährlich gewesen, nichtsdestoweniger ließ sich's nicht leugnen, daß er damals genau wie heute geschrieben hatte: »Anna Kyrilowna ist das reizendste Mädchen, das mir je . . .«
Nachdem ihm das einmal eingefallen war, konnte er mit seinem Briefe nicht weiter.
Seiner Mutter würde das gewiß auch einfallen, sagte er sich, und sie würde lächeln und in seine Lobpreisungen Kittys kein Vertrauen setzen.
[...]
»›Na, was willst du eigentlich?‹ schrie ich ihn an.
»Ich ahnte, was es war, und da ich Kathrins scharfes Beobachtungsvermögen kannte, so wußte ich, daß mir nichts anderes übrig blieb, als durch dick und dünn vorwärts zu gehen.
»›Nur ein Billett für den Herrn Grafen.‹
»›Von wem?‹
»›Von der Frau Gräfin . . .‹ – er nannte meinen Familiennamen – aus der Pension Sankt Helena. Der Bote wartet auf Antwort.‹
»›Schafskopf – gib her.‹
»Nachdem ich das Billett gelesen, reichte ich es meiner Frau. Es enthielt die Worte:
<opening>›Mein lieber Paul.</opening>
Muß dringender Umstände halber Nizza bereits morgen verlassen. Möchte Dich noch einmal sehen. Ich erwarte Dich gegen vier Uhr – übrigens ist mir jede Stunde recht. Ich bin in großer Aufregung. Ein paar Augenblicke wirst Du wohl übrig haben für Deine unglückliche Tante
<closing>Charlotte.‹</closing>
»Ich merkte sofort, daß Lotti den Brief pfiffigerweise so eingerichtet hatte, daß er meiner Frau in die Hände geraten könne, ohne mir zu schaden. Ich segnete sie für ihren genialen Einfall, der mit der ›genauen Wahrheit‹, die ich Kathrin den Tag zuvor mitgeteilt hatte, so herrlich übereinstimmte.
»›Was soll ich tun?‹ fragte ich Kathrin.
»Mein Diener erschien noch einmal – ›der Bote wartet auf Antwort,‹ wiederholte er.
</extract>
<extract>
Deshalb wird es gut sein, ich lasse den Battling
selber reden.
Drittes Kapitel.
Die Briefe des Battlings.
<opening>Liebste Mamma!</opening>
Du hast mir gesagt, das ich Dir gleich schreiben
sol, wie mir es gesellt im Institut. Es gefellt mir
gar nicht. Die Jungens sind furchbar grob und
haun mich immer und nenen mich Badling. Sie
sagen, ich wär ein dumes Gescheeche. Ich mag
nicht mer dableiben und wil wieder nach Leisnig.
Ach, liebste Mamma, ich weine die ganze Nacht
und dan kommen sie und haun mit einem Rohrstock auf die Bettdecke, die dinne ist. Und früh
läßt mich der Schüsseloberst den Zucker karieren
beim Kaffe und Mittags der Schisselvice den
Braten, wen's welchen gibt, aber's giebt blos
einmal welchen. Ach liebste Mamma kom doch
gleich und hol mich ab. Sonst lauf ich dervon.
<closing>Mit herzliche Grüße
Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.</closing>
<opening>Meine liebe gute Mamma!</opening>
Du denkst, ich liege Dir was for, aber es ist
doch alles war was ich Dir geschrieben habe.
Gestern haben sie mich wieder das Fleisch wollen
karieren lassen. Da hab ich gesagt ich sags dem
Lehrer, da haben sie mich untern Tisch gesteckt und
gesagt ich soll die Wacht am Rhein singen und sie
wollen den Takt treten mit den Beinen, und haben
mich auch getreten. Aber gesungen hab ich nicht.
Ach meine liebe gute beste Mama, schick mir doch
eine Kiste mit Wurst und Gänsefett, daß ich auch
was hab auf die trockenen Dreierbrotchen, die wir
zum Frihstick kriegen, und ich dem Schisseloberst
was abgeben kann, daß er mich nicht immer den
Zucker frih karieren läßt.
<closing>Mit herzlichen Grüßen
Dein Dich liebender Sohn
Willbald Stilpe.</closing>
Ich hab einen Freund, der heißt auch Willi,
er sitzt neben mir in der Klasse. Dem wil ich
auch Wurst geben, weil er mir auch Wurst gibt.
<opening>Meine allerliebste gute Mamma!</opening>
Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn
ich in die Ferien komme will ich Dir schon zeigen,
was ich für blaue Flecke hab, und einen ganzen
Bischel Haare hat mir Einer ausgerissen, wo ich
gar nichts gemacht hatte. Blos, weil ich ihm die
Stieweln nicht butzen wollte. Und den Lehrern
darf man nichts betzen, dann krigt man blos noch
mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch
nichts. Wenn ein Battling betzt, missen ihn auch
die andern Battlinge mit verhauen, und er darf
auch nicht mitspielen.
Die andern Jungens krigen alle Taschengeld
für wenn die Obstfrau kommt. Die kommt zweimal
in der Woche und hat viele schöne Sachen, Johannisbrot und Äpfel und Birn und Mispeln, aber
Blockzucker darf sie nicht haben. Du darfst mir
aber das Geld nicht selber schicken, sondern dem
Herrn Inspektor Teurig, der giebt mir dann jede
Woche zwanzig Fenge.
</closing>Es grüßt Dich Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.<closing>
Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen.
<opening>Liebe, gute, allerliebste Mama!</opening>
Ich bedanke mich sehr schön für die große
Kiste. Ich habe der ganzen Schissel Leberwurst
und Pfannkuchen gegeben und stehe jetzt sehr gut
beim Schisselobersten und den andern. Du schreibst,
ich soll Dir schreiben, was ich den ganzen Tag
mache. Das will ich thun. Also paß auf: Um
fünf Uhr frih klingelt eine Klingel am obern Schlafsaal und dann schreien die beiden Herrn Inspektoren:
Aufstehn! Aufstehn! Die erste Abteilung sich da
zuhalten! Die erste Abteilung sind nämlich die
Battlinge. Wir springen nun schnell aus den
Betten raus und rennen in den Stiefelwichssaal
und wichsen unsre Stiefel an den Beinen ohne
Ausziehn sehr blank. Dann rennen wir in den
Waschsaal, wo jeder sein Waschbecken hat, aber
nicht aus Borzelan, sondern zum Umkippen aus
Blech. Die Herren Inspektoren passen auf, daß
wir die Hemden runterziehn und nicht so spritzen.
Das Wasser ist wie Eis, und die Seife hat jeder
in einem Schiebekasten bei sich, wo sich auch der
Waschlappen und die Kämme aufhalten. Dann
rennt jeder in den Kammsaal und kämmt seine
Haare. Ich hab einen Scheitel machen missen
links aber ohne Bomade, mit Wasser. Wenn
Einer Läuse hat, so nennen sie ihn Lausewenzel.
Es kommt beim Haareschneiden raus und ist eine
große Schande und wird mit Essiig gewaschen.
Ich dachte schon, ich hätte welche, weil michs immer
picken that, aber ich hatte keine. Mein Freund
Rammer hat mal welche gehabt, aber dann hat er
beim Haareschneiden immer gebetet Lieber Gott
gieb das ich keine Läuse hab, und dann hat er
keine mer gehabt.
Ich muß nun schließen, weil es gleich zum
Bettegehn klingelt.
<closing>Es grüßt und küßt Dich
Dein Dich treu liebender
Sohn
Willibald Stilpe.</closing>
<opening>Meine gute liebe allerbeste Mama!</opening>
Der Herr Inspektor hat mir gesagt, das Du
Taschengeld fir mich geschickt hast. Das hat aber
der Schisselvice gehehrt, und da hat er mir gesagt,
ich solls keim sagen und soll ihm finf Pfenge
borgen. Das ist aber verboten; aber ich muß ihm
doch borgen, weil er mich sonst am Sonntag das
Apfelmus karieren läßt und selber ißt.
Nun will ich fortfahren, was ich thu, wenn ich
meine Haare gekämmt hab. Dann gehts nauf in
die Arbeitszimmer und wird die Schulsachen nochmal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen mit
Wichsen und Waschen und Kämmen fertig sind
wird angetreten und die Herren Inspektoren sehen
Einen an, ob man reine gewaschen ist und auch
die Stiewelsohlen ganz sind, besonders hinter den
Ohren, wo sich manchmal Schmutz befindet und
man dann karieren muß. Dann singen wir in
der Aula Nun danket alle Gott oder andere
schöne Gesangbuchslieder und ein Herr Lehrer
betet ein Gebet, was er grade auswendig kann.
Dann gehts zum Kaffetrinken, wo immer jede
Schissel, welche aus vier jungens besteht und
einen Schisseloberst, Schisselvice, Schisselterz und
Schisselschund hat, eine Kanne Kaffe krigt und
jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stikchen
Zucker. Der Zucker wird gewöhnlich in die Semmeln nein gebohrt und dann gedunkt, das schmeckt
wie Kuchen. Die Schisselschunds krigen aber nicht
immer alle zwei Stikchen Zucker, weil manchmal
welche fehlen. Wenn Kaffe getrunken ist, ist eine
Arbeitsstunde, wo Schularbeiten gemacht werden.
Ein Herr Lehrer paßt auf, das keiner abschreibt.
Manche Jungen schreiben aber doch ab. Ich wage
mirs nicht.
Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein
Nachbar schubt mich immer, daß ich Messerspießen
soll mit ihm. Das ist ein sehr schönes Spiel.
Auch Federtippens wird gespielt. Ich habe drei
Goldhahnfedern gewonn, eine ganz neue dabei.
<closing>Es grüßt und küßt Dich Dein
treuer Sohn
Willibald Stilpe.</closing></extract>