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Friedrich Nietzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter.

Versuch einer Beleuchtung durch eine neue Weltanschauung.

Von Dr. Eugen Heinrich Schmitt.

Leipzig 1902.

Verlegt bei Eugen Diederichs.



Vorwort.

Vorliegende Schrift will keine systematische Arbeit sein. Indem sie den Propheten und Kämpfer Nietzsche als einen der grossen Vorbereiter einer ganz neuen Phase der menschlichen Kultur darzustellen, von ganz neuer Seite zu beleuchten unternimmt, die bisher von der litterarischen und philosophischen Kritik angelegten Massstäbe, die alle in den Grundvorurteilen und Grunddogmen eines Weltalters wurzeln, welches aufzuheben Nietzsche als seine Lebensaufgabe erfasst, als völlig ungenügend und unzutreffend verwerfen muss, übernimmt sie die grosse und schwere Aufgabe in diese neue Welt des Gedankens, der Nietzsche Bahn bricht, einzuführen oder solche Einführung wenigstens vorzubereiten. Um dies zu ermöglichen, um sich überhaupt verständlich zu machen, musste eine Riesenperspektive der Kulturentwicklung in kurzen Zügen entfaltet werden, mussten die grossen kulturellen und Erkenntnis-Probleme der antiken Welt und der christlichen Welt bis zur modernsten Gegenwart im Zusammenhang mit der vermittelnden geschichtlichen Individualität Nietzsches und ferner im Zusammenhang mit jenem Ziele zur Darstellung gelangen, welchem dieser grosse Bahnbrecher zusteuerte, indem er für den oberflächlichen Blick nur die ungeheuerste Reaktion antiker ja vorgeschichtlicher Urgewalten und Urformen der Kultur in den vulkanischen Ausbrüchen seines Genius darstellt. Indem Nietzsche so ungeheure Gegensätze wie niemand vor ihm in seinem Schaffen zu vereinigen, die ungeheuerste Kluft, die die Geschichte kennt, zu überbrücken übernimmt, so kann sein gigantisches Ringen nur verstanden werden, wenn man das Ziel, welchem er entgegenringt, wenigstens in allgemeinen Umrissen zu anticipieren unternimmt, nicht aber wenn man die beengten Vorurteile der Weltanschauung und der Moral eines Zeitalters als richtenden Massstab an ihn anlegen will, welches Zeitalter eben dort reaktionär ist in viel schlimmerem Sinne als Nietzsche, wo es radikal zu sein glaubt und nur die absterbenden Ideale einer niedergehenden Welt zur möglichsten Vollkommenheit auszubauen sich anschickt, deren fundamentale Unhaltbarkeit erfasst zu haben eben eine Seite der Grösse Nietzsches ausmacht. So erscheinen selbst Nietzsches relative Mängel, das Unausgebaute, Elementare, ja Rohe vieler seiner Grundzüge in dieser umfassenden Perspektive der geschichtlichen Entwicklung betrachtet als Kennzeichen seiner Überlegenheit, wie denn die langsame Entwicklung des Embryo und die unbehülflichere Jugend ein Kennzeichen der höheren Art ist, die die vorgeschrittenere Stufe der Entwicklung mit grösserer Mühe betritt, während die niedere Form schneller mit dem Fertigen und Abgeschlossenen prunken mag.

Diese Notwendigkeit so umfassende Perspektiven der Geschichte und so Ferneliegendes in einem Fluge gleichsam zu erfassen, um auch nur die flüchtigen Grundzüge klar zu machen, in denen eine solche Gestalt wie Nietzsche überhaupt sachgemäss erfasst werden kann, verursacht das Aphoristische und den Mangel eines eigentlichen Systemes in dieser einleitenden Darstellung, die nur einen grossen Grundgedanken hinwerfen will den Denkenden, eine Fackel hinschleudern denen, die nach Licht sich sehnen. So einfach dieser Grundgedanke selbst ist, so reich sind seine Konsequenzen, die das ganze Gebiet der rein theoretischen Weltanschauung so wie auch der praktisch sittlichen Grundanschauungen umwälzen und daher überall auf die einzelnen Dogmen und Grundvorurteile sozusagen aller bisher bestehenden Kultur stossen. Wie Nietzsche selbst allseitig mit den in eingefleischten Dogmen wurzelnden Missverständnissen zu kämpfen hatte, so wird auch zweifelsohne diese Schrift mit solchen zusammenstossen. Aber es musste der Versuch gemacht werden, diese womöglich schon in der Wurzel abzuschneiden und die neue Anschauung nach allen Seiten hin möglichst vor Verwirrungen zu schützen. Unliebsame neue Gedanken pflegt man mit Vorliebe mit längst dagewesenem zu verwirren und so die eigene Oberflächlichkeit und Gedankenträgheit mit dem Prunkmantel der Gelehrsamkeit zu verdecken. Die Mängel dieser Schrift, das Abgerissene und vielfach Skizzenhafte derselben mögen hierin ihre Erklärung und in gewissem Sinne ihre Rechtfertigung finden, so wie auch Wiederholungen, die mir bei der Schwierigkeit und Neuheit des Themas pädagogisch notwendig erschienen.

Einleitung.

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