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1811-08-27_HVoss_Truchsess.xml
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<titleStmt><title>Von Heinrich Voß an Christan Freiherr Truchseß von Wetzhausen. Heidelberg,
27. August 1811, Dienstag</title><respStmt ref="http://d-nb.info/gnd/1155558472"><persName><surname>Jahnke</surname><forename>Selma</forename></persName><resp><note type="remarkResponsibility">Editorin</note></resp></respStmt><respStmt><persName ref="http://d-nb.info/gnd/1121508855"><surname>Neuber</surname><forename>Frederike</forename></persName><resp><note type="remarkResponsibility">Digitale Konzeption und Modellierung</note></resp></respStmt><respStmt><persName><surname>Rölcke</surname><forename>Michael</forename></persName><resp><note type="remarkResponsibility">Editor</note></resp></respStmt><respStmt><persName><surname>Lecroq</surname><forename>Axelle</forename></persName><resp><note type="remarkResponsibility">Digitale Modellierung</note></resp></respStmt><respStmt><persName><surname>Thielert</surname><forename>Pauline</forename></persName><resp><note type="remarkResponsibility">Mitarbeit</note></resp></respStmt></titleStmt><editionStmt><edition>Briefe aus Jean Pauls Umfeld. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften von Selma Jahnke und Michael Rölcke (2020-). In: Jean
Paul – Sämtliche Briefe digital. Herausgegeben im Auftrag der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer, Norbert
Miller und Frederike Neuber (2018–).</edition></editionStmt>
<publicationStmt><publisher><email>telota@bbaw.de</email><orgName>TELOTA - The Electronic Life Of The Academy</orgName><orgName>Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften</orgName><address><addrLine>Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin</addrLine><country>Germany</country></address></publisher><pubPlace>Berlin</pubPlace><date type="publication">2020 ff.</date><availability status="free"><licence target="http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/"/></availability></publicationStmt>
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<bibl rend="print" type="baseText">Ernst Wagner’s sämmtliche Schriften, hg.
von Friedrich Mosengeil, Bd. 12, Leipzig: Fischer 1828, S.
179-182.</bibl></witness>
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<persName key="JP-004520">Heinrich Voß</persName>
<placeName key="JP-005819">Heidelberg</placeName>
<date when="1811-08-27" cert="high"/>
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<persName key="JP-004347">Christian Freiherr Truchsess von Wetzhausen</persName>
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<term corresp="#JP-011854">Bettenburger Literatenkreis</term>
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<term corresp="#JP-012869">Literarische Kritik</term>
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<dateline>Heidelberg, d. 27. Aug. 1811.</dateline>
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<p><seg type="comment"><orig>Wagner’s <bibl subtype="werk" sameAs="JP-010018">"Jesus
von Nazareth"</bibl> habe ich mit allem Fleiße durchgesehn und meine
Bemerkungen niedergeschrieben</orig><note xml:id="nzcc_25w_z4b"><seg type="comment"><note xml:id="nvz3_kfj_z4b"><ref type="letter" subtype="passage" target="JP-UB0965/#start_jpl_4fj_z4b"><persName key="JP-004556">Johann Ernst
Wagner</persName> hatte Teile seines "Jesus von
Nazareth"-Manuskripts vom Jenaer Theologen <persName key="JP-001400">Johann Jakob Griesbach</persName> – der
es kritisch durchgesehen hatte – zurückbekommen</ref> und es
<ref type="letter" subtype="passage" target="JP-UB1102/#start_q1w_dgj_z4b">an Heinrich Voß
zur Begutachtung geschickt</ref>.</note></seg></note></seg>,
unter welchen einige von <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high"><persName key="JP-003944">Schwarz</persName></hi> sind. <seg type="comment"><orig>Jetzt ist alles in <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high"><persName key="JP-999999">Jean Pauls</persName></hi>
Händen.</orig><note xml:id="nvcg_k5w_z4b"><ref type="letter" subtype="passage" target="JP-UB1104/#start_uvy_3ww_z4b">Wagner
hatte Voß gebeten, das Manuskript mit den Griesbachs, Schwarz' und
Voß' eigenen Anmerkungen an Jean Paul
weiterzuschicken.</ref></note></seg></p>
<p>Ich erblicke hier und da ein modernes Kostume statt des alten einfacheren. Das
stört den schönen Ton des Ganzen. Das Moderne blickt besonders durch in den
Beiwörtern.</p>
<p>Eine solche Erzählung hat ihre eignen Schwierigkeiten. Ist sie im alterthümlichen
Geist, so ziemt ihr auch alterthümliche Sprache; dann bleiben freilich dem
gemeinen Leser manche Dunkelheiten, deren tieferen Sinn das Gemüth nur ahnet.
Soll sie für <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high">unsere</hi> Zeit
zugeschnitten werden, so muß auch gewissermaßen der Inhalt selbst sich der
modernen Denkart fügen; und wie vieles geht dann verloren!</p>
<p>Giebt es eine Vermittelung, so ist sie gewiß schwer. <persName key="JP-004556">Wagnern</persName> scheint sie da am meisten gelungen, wo seine bildliche
Sprache die alte Vorstellungsart ungekränkt läßt und bloß durch einen
hinzugefügten Gedanken die jetzigen Vorstellungen damit zu vereinigen sucht.</p>
<p>In Rücksicht der Wunder scheinet mir <persName key="JP-004556">Wagner</persName>
den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Er erzählt alles einfach, wie es
geschrieben steht, aus dem Gemüth der Evangelisten. So muß es geschehen! denn
wenn Einer von den Grundgescheidten, Wasserklarverständigen, der da <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high">weiß</hi>, daß es keine Wunder
giebt, Wunder erzählt, so kann unmöglich beim Leser der Glaube dafür erweckt
werden; und wer mit solcher Grundgescheidtheit alles Wunderbare hinwegexegisirt,
– nicht selten Sprache und Grammatik auf das grausamste folternd, – um die Ehre
<hi rendition="#u" hand="#author" cert="high">seines</hi> Gottes zu retten,
der ist mir verächtlich. Der rechte Erzähler muß den <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high">Glauben</hi> im Herzen mitbringen; und das hat
<persName key="JP-004556">Wagner</persName> gethan, wie die Evangelisten;
nur mit dem Unterschiede, daß, was bei diesen einfältig-religiöser Glaube war,
bei ihm ein poetisch-religiöser Glaube geworden ist. Mir aber gilt das ziemlich
Eins! <persName key="JP-001962">Johannes</persName>, als er vom Teiche
<placeName key="JP-005589">Bethesda</placeName> erzählte, glaubte ohne
Zweifel an das persönliche Daseyn eines Engels, der das Wasser in Bewegung
setzte. Der moderne Neologe erschrickt davor, und weiß durch Advokatenkniffe den
Engel so rein weg zu läutern, daß auch nicht ein Fläumchen aus seinem Flügel
zurückbleibt. Wir Nichttheologen wissen recht gut, daß die Heilkraft des Wassers
aus der Beschaffenheit der Erdschichten, vielleicht auch aus manchen Zuflüssen,
herrührte, freuen uns aber doch der herrlichen, echt religiösen Dichtung, daß
die Gottheit durch einen himmlischen Boten das Wasser in Bewegung setzen, und
von wunderbarer Heilkraft sprudeln lasse. – Das ist es auch, was mir den
<persName key="JP-000130">Ariost</persName> so lieb macht. Er weiß mich
durch seine gläubige Darstellung so in seine Wunderwelt hineinzuzaubern, daß ich
glauben <hi rendition="#u" hand="#author" cert="high">muß</hi>; gerade wie es
einem in wunderbaren Träumen zu ergehen pflegt. Sein Nachfolger <persName key="JP-013370">Fortiguerra</persName> dagegen, der Verfasser des <bibl subtype="werk" sameAs="JP-013504"><seg type="comment"><orig><bibl subtype="werk" sameAs="JP-013504">Riciardetto</bibl></orig><note xml:id="nen2_jyw_z4b">Das 1738
erschienene und 1784 erstmals ins Deutsche übersetzte Epos
(Richardett) steht in der Tradition des burlesken Epos <bibl subtype="werk" sameAs="JP-013526">"Il Morgante"</bibl> (1466
bis 1470 entstanden) von <persName key="JP-013425">Luigi
Pulci</persName>, aber auch der Werke <persName key="JP-000130">Ariosts</persName> und <persName key="JP-013348">Francesco
Bernis</persName>.</note></seg></bibl>, den ich in meinem
funfzehnten Jahre las, wollte mir trotz des Wunderbaren, was sonst die Jugend so
anzieht, nicht gefallen; – gewiß, weil er viel zu ungläubig ist, um für seine
Märchen Glauben einzuflößen. Auch hier heißt es: <seg type="comment"><orig>"werdet wie die Kinder."</orig><note xml:id="ni5j_tzw_z4b">Vgl.
Mt 18,3: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr
nicht in das Himmelreich hineinkommen." bzw. Markus
10,13-16.</note></seg></p>
<p><persName key="JP-001400">Griesbach</persName> hat <persName key="JP-004556">Wagnern</persName> mitunter Unrecht gethan. Statt ihn von der poetischen
Seite aufzufassen, greift er ihn von der dogmatischen an; (ein Mißgriff, den
Mancher bei der Beurtheilung von <seg type="comment"><orig><bibl subtype="werk" sameAs="JP-013528">Schillers "Göttern
Griechenlands"</bibl></orig><note xml:id="ntqd_21x_z4b">Das 1788
entstandene Gedicht wurde zuerst in Wielands <bibl subtype="werk" sameAs="JP-010113">"Teutschem Merkur"</bibl> veröffentlicht (März 1788,
S. 250-260) und scharf von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg kritisiert
(<bibl subtype="werk" sameAs="JP-008166">"Deutsches Museum"</bibl>, 8.
St. August 1788, S. 97-105). 1800 erschien eine zweite Fassung im ersten
Band seiner bei Crusius in Leipzig erschienenen "Gedichte" (S.
281-287).</note></seg> sich hat zu Schulden kommen lassen.) Freuen
sollte es mich, wenn es mir gelungen wäre, hier und da <persName key="JP-004556">Wagners</persName> poetischen Glauben gegen <persName key="JP-001400">Griesbachs</persName> Polemik zu befestigen. Ueber einige Punkte habe ich
meinen kritischen Nachfolger<persName key="JP-999999"> Jean Paul</persName>
gebeten, zu notiren. Ob <persName key="JP-001962">Johannes</persName> wirklich
"Großvezier im Messiasreich" habe werden wollen, wie <persName key="JP-001400">Griesbach</persName> behauptet, geht mir noch immer im Kopfe herum, wie
Etwas, das nirgends Platz finden kann.</p>
<p>Sobald ich <seg type="comment"><orig>Antwort von <persName key="JP-999999">J.
Paul</persName></orig><note xml:id="nhhn_rdx_z4b">Diese ist nicht
überliefert.</note></seg> habe, schreib' ich <persName key="JP-004556">Wagnern</persName> sogleich <seg type="comment"><orig>und <anchor type="target" xml:id="start_mfl_g2x_z4b"/>danke ihm für das Bildniß
<persName key="JP-003027">Oehlenschlägers</persName><anchor type="target" xml:id="stop_mfl_g2x_z4b"/>, oder vielmehr seinem
<persName key="JP-004570">Antönchen</persName>.</orig><note xml:id="nmr4_k2x_z4b">Der Truchseß von Wetzhausen hatte schon im April
oder Mai <persName key="JP-004570">Wagners Sohn Anton</persName>
beauftragt, ein den dänischen Dichter <persName key="JP-003027">Adam
Oehlenschläger</persName> darstellendes Miniaturbildnis
abzuzeichnen.</note></seg></p>
<p>Du willst, ich soll einen Kommentar zu <persName key="JP-004029">Shakespeare</persName> schreiben? – Das könnte wohl kommen! Wenn ich mit
<persName key="JP-004507">Abraham</persName> und <persName key="JP-000007">Abecken</persName> an Einem Orte lebte, so wollten wir Drei
gemeinschaftlich etwas Gutes liefern. – Zum <bibl subtype="werk" sameAs="JP-013534">Wintermährchen</bibl> und <bibl subtype="werk" sameAs="JP-013535">Koriolan</bibl> wird wahrscheinlich noch <bibl subtype="werk" sameAs="JP-013533">Titus Andronikus</bibl> hinzukommen, von
dem schon mehrere Akte übersetzt daliegen. Dieses Stück ist fast gräßlich; aber
unübersetzt darf es nicht bleiben. Es ist eine Jugendarbeit <persName key="JP-004029">Shakespeare's</persName>; aber die es ihm absprechen, haben
Unrecht, wie ich beweisen könnte. Hast Du Tieck’s altenglisches Theater gelesen?
<seg type="comment"><orig><bibl subtype="werk" sameAs="JP-013532">Perikles</bibl> ist wohl von <persName key="JP-004029">Sh.</persName>:</orig><note xml:id="nc4y_kgx_z4b">Vgl. "Perikles,
Fürst von Tyrus. Ein Schauspiel von William Shakespear" in
"Alt-Englisches Theater", Bd. 1, S. 233-371.</note></seg>
<seg type="comment"><orig>aber <bibl subtype="werk" sameAs="JP-009780">den alten
König Johann</bibl> für seine Dichtung auszugeben, möchte nicht von
kritischem Geiste zeugen etc.</orig><note xml:id="nbhr_1hx_z4b">"König
Johann von England", das erste Stück in Tiecks Sammlung "Alt-Englisches
Theater" (Bd. 1, S. 1-157) wird als ein Trauerspiel von Shakespeare
ausgegeben. Mittlerweile besteht an der Zuschreibung des Stücks kein
Zweifel.</note></seg></p>
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